Gesundheitsversorgung für Migranten:Interkulturelle Sprechstunde

Elif Cindik-Herbrüggen

Elif Cindik-Herbrüggen leitet die einzige türkischsprachige psychiatrische Praxis in München.

(Foto: Deniz Aykanat)

Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen, Traumata nach der Flucht, Ungewissheit während des Asylverfahrens: Migranten müssen oft mit belastenden Erfahrungen klarkommen, viele sind psychisch krank. Doch die medizinische Versorgung ist unzureichend. Zu Besuch bei zwei Münchner Therapeuten mit ganz unterschiedlichen Lösungsvorschlägen.

Von Deniz Aykanat

Das kleine Mädchen grinst. Auf Türkisch fragt es: "Haben Sie heute schon gelacht?" Das Bild hängt an der Pinnwand, es riecht nach frischem Kaffee und Desinfektionsmittel. Hinter einer beigen Theke scannt die Arzthelferin Versichertenkarten und verteilt Anmeldungszettel, an der Wand reihen sich Stühle. Alles wie in einer ganz normalen Arztpraxis. Doch Elif Cindik-Herbrüggen leitet die einzige türkischsprachige psychiatrische Praxis in München.

Gleich ist freie Sprechstunde. Draußen vor der noch verschlossenen Tür warten bereits viele Menschen in Anzug und Kostüm auf den Fensterbrettern - die Aktentaschen unter den Arm geklemmt, die Versicherungskarten bereit. Eine Frau mit Kopftuch lehnt am Treppengeländer. Die Blicke der Wartenden wandern zur Türe und wieder auf die Armbanduhren. Ein dunkelhaariger Mann im Trainingsanzug kratzt sich an seinem Dreitagebart, mit der Hand streicht er immer wieder seinen Überweisungsschein glatt.

Psychiaterin Cindik-Herbrüggen sitzt derweil in ihrem Büro am Stiglmaierplatz an ihrem großen runden Holzschreibtisch, die Vorhänge sind zugezogen. Die 42-Jährige hat nur wenig Zeit für ein Gespräch - eine kurze Pause bis die neuen Patienten die Fragebögen ausgefüllt haben. Etwa 60 Prozent der Menschen, die zu ihr kommen, haben Migrationshintergrund.

Unternehmen stellen heute ganze Firmen an, um sich interkulturell beraten zu lassen. Im Gesundheitsbereich aber fehlen für solche Maßnahmen Gelder und Engagement, so sieht das Cindik-Herbrüggen. "Ich finde, man müsste die Vergabe von Geldern zum Beispiel an Kliniken mit einer Pflicht zur interkulturellen Weiterbildung verknüpfen."

"Therapeuten für Türken gab es damals nicht"

Ob Migranten durchschnittlich häufiger von psychischen Erkrankungen betroffen sind als Deutsche ist schwer zu sagen. Bislang gibt es wenige Daten und auch diese sind schwierig zu vergleichen, da sich Migranten und Deutsche in Bildungsstand und Altersstruktur stark unterscheiden. Wissenschaftler der Berliner Charité haben allerdings herausgefunden, dass junge türkischstämmige Frauen fast doppelt so oft Suizid begehen wie gleichaltrige deutsche Frauen.

Migranten müssen mitunter mit belastenden Erfahrungen klarkommen: Asylverfahren, Armut und Bildungsferne oder Zerrissenheit zwischen zwei Kulturen sind nur einige Punkte, die Migranten nach Ansicht der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) möglicherweise anfälliger für psychische Störungen machen. Die medizinische Versorgung psychisch kranker Menschen mit Migrationshintergrund sei aber unzureichend, es fehle zum Beispiel an muttersprachlichen Therapeuten und Dolmetschern.

Cindik-Herbrüggens Mutter sprach kein Deutsch als sie mit Mann und Kindern in den siebziger Jahren nach Deutschland kam. Als kurz darauf eine von Cindik-Herbrüggens Schwestern tödlich verunglückte, bekam ihre Mutter schwere Depressionen. "Therapeuten für Türken gab es damals nicht", erinnert sie sich. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Cindik-Herbrüggen Psychiaterin geworden ist und ihre andere Schwester Psychologin.

Der Mensch - ein Produkt seiner Kultur?

Auch Ilhami Atabay ist Psychotherapeut in München und bekommt täglich mindestens 30 Anrufe mit Anfragen für eine Therapie. Die Praxis des 50-Jährigen ist am Goetheplatz in einem großen Haus aus der Gründerzeit. Hinter der schweren Tür erstreckt sich ein meterlanger Flur, das Holz knarzt unter den Füßen. Am Ende des Ganges liegt das Therapiezimmer.

Gesundheitsversorgung für Migranten: Ilhami Atabay, Psychotherapeut, in seiner Praxis am Goetheplatz.

Ilhami Atabay, Psychotherapeut, in seiner Praxis am Goetheplatz.

(Foto: Deniz Aykanat)

Dunkle Holzmöbel vollgepackt mit Fachliteratur säumen die Wände, die Patienten können auf einem weinroten Ledersofa Platz nehmen. Atabay sitzt in einem Sessel, ein vollgeschriebener Terminkalender liegt vor ihm auf einem Tischchen. Der 50-Jährige rührt in einer Tasse mit türkischem Tee. Während des Gesprächs klingelt ständig das Telefon. "Das liegt daran, dass Ärzte Migranten automatisch zu dem Kollegen mit Migrationshintergrund statt auch zum deutschen schicken", sagt er.

Atabay kam 1980 mit 17 Jahren allein nach Deutschland. Als Asylsuchender war er vor dem Militärputsch in seiner Heimat Türkei geflohen. Heute werden sogar türkische Migranten, die schon in der vierten Generation in Deutschland leben, automatisch zu ihm geschickt. "Diese kulturalisierte Brille bringt uns dazu, den Menschen nur noch als Produkt seiner Kultur zu sehen." Wenn es keine Sprachschwierigkeiten gebe, könne ein deutscher Kollege einen Migranten genauso gut behandeln, sagt er. "An einen guten Psychologen stelle ich die Anforderung, dass er verstehen muss, egal welchen Hintergrund der Patient hat."

Einer von Atabays Patienten hatte sich in eine junge Frau verliebt, die keine Jungfrau mehr war und konnte damit nicht umgehen. Atabay hakte nach: Warum ist es so wichtig, was die Freundin vorher gemacht hat? Warum spielt es eine Rolle, was die anderen über ihn sagen? Und ist es das alles tatsächlich wert, die Freundin zu verlassen? "Auch ein deutscher Therapeut kann sich die Fragen stellen: Was ist die Geschichte des Patienten? Warum muss er auf seiner Ehre so bestehen?"

Die Familie als Ressource

Cindik-Herbrüggen dagegen findet es wichtig, dass Ärzte und Therapeuten interkulturell ausgebildet sind. Die 42-Jährige behandelt zum Beispiel sogenannte Kofferkinder, die an Traumata oder Persönlichkeitsstörungen leiden: Das sind Kinder, die von ihren in Deutschland arbeitenden Eltern in den sechziger und siebziger Jahren in der Türkei zurückgelassen werden mussten und anschließend nachgeholt wurden. Kofferkinder sind oft zerrissen zwischen zwei Kulturen. In Deutschland sind sie "die Türken", in der Türkei werden sie Almancis genannt - die "Deutschländer."

Migranten können nach Ansicht Cindik-Herbrüggens nicht einfach behandelt werden wie Deutsche. Sprachliche und vor allem kulturelle Aspekte müssen beachtet werden. "Nehmen sie die Schizophrenie. Ein schizophrener Migrant ist nahezu immer verheiratet. Ein deutscher Betroffener aber fast nie", sagt Cindik-Herbrüggen.

Bei einem türkischstämmigen Schizophrenen könne man oft die Familie als Ressource mit einbeziehen. Angehörige sorgen dann dafür, dass Medikamente eingenommen werden oder der Arzt rechtzeitig informiert wird. "Wenn man solche Dinge weiß, dann geht es einem türkischen Schizophrenen meist viel besser als einem deutschen."

"Jede wollte vor der anderen ihr Gesicht wahren"

Atabay hingegen findet, dass es sogar problematisch sein kann, wenn Therapeut und Patient denselben kulturellen Hintergrund haben. "Der Patient geht davon aus, dass ich ihn als Therapeut sowieso verstehe. Das kann verhindern, dass man in die Tiefe geht."

Dass der gleiche kulturelle Hintergrund ein Hemmnis sein kann, diese Erfahrung hat auch Cindik-Herbrüggen in ihren Gruppentherapien für türkische Frauen gemacht. In der Gruppe benahmen sich die Patientinnen zunächst als würden sie sich zum Tee treffen. "Jede wollte vor der anderen ihr Gesicht wahren, so wie das in der türkischen Gesellschaft üblich ist", sagt die Ärztin. Bei vielen dauerte es bis zur 20. Therapie-Sitzung, bevor sie mit der Wahrheit rausrückten.

Nämlich, dass die Tochter der einen Drogen nimmt und die andere von ihrem Mann geschlagen wird. Eine Mutter berichtete schockiert darüber, dass sie bei ihrem Putzjob in einer Hauptschule täglich Schwangerschaftstests auf der Mädchentoilette findet. "Wenn sich eine Frau öffnet, dann ziehen die anderen irgendwann nach", erklärt die Ärztin. Ab Januar 2013 wird es auch eine von Cindik-Herbrüggen geleitete Gruppe mit zehn Männern geben. Ein Novum in München.

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