50. Todestag:"München hasse ich geradezu schon"

50. Todestag: Der berühmte Schriftsteller Oskar Maria Graf sitzt bei einer Rast im Garten.

Der berühmte Schriftsteller Oskar Maria Graf sitzt bei einer Rast im Garten.

(Foto: SZ-Photo)

Vor 50 Jahren starb mit Oskar Maria Graf einer der bedeutendsten bayerischen Schriftsteller im New Yorker Exil. Mit seiner Heimat versöhnte er sich nie - trotzdem wäre er beinahe zurückgekehrt.

Von Wolfgang Görl

Am 30. Juni 1967 stehen in der fünften Spalte der Titelseite der Süddeutschen Zeitung zwei Todesmeldungen aus den USA. Die eine informiert über den Tod der Filmschauspielerin Jayne Mansfield, die bei einem Verkehrsunfall in der Nähe von New Orleans ums Leben gekommen ist. Mansfield war eine platinblonde, kurvige Diva, der Männertraum der Fünfzigerjahre, die sich als freizügige Sexsirene virtuos zu inszenieren verstand. Die zweite, etwas kürzere Todesmeldung beginnt mit dem Satz: "Oskar Maria Graf, der bekannte aus Bayern stammende Schriftsteller, ist im Alter von 73 Jahren in New York gestorben."

Auf den Feuilletonseiten folgt ein Nachruf von Johann Lachner, der sich vor dem Toten verbeugt und eine Hoffnung ausspricht: "Uns bleibt die traurige Pflicht, von dem trotz seiner Jahre noch lebfrischen Menschen Abschied zu nehmen. Seine dramatische erzählende Kraft, seine psychologisch eindringliche Beobachtungsgabe, die seltene Mischung aus derber Sinnlichkeit und feinfühligem Verständnis machen aus ihm - das sei nachdrücklich gesagt - den bedeutendsten bayerischen Dichter seit, vielleicht neben Thoma. Ein Nachfolger ist nicht zu entdecken; wohl aber hoffen wir, dass er selber so gründlich entdeckt werden möchte, wie er es verdient, der fromme, heidnische Mann."

Oskar Maria Graf war am 28. Juni in einem New Yorker Krankenhause gestorben, knapp einen Monat - die SZ nahm es nicht so genau - vor seinem 73. Geburtstag. Ob die Hoffnung des Feuilletonisten Lachner, Graf möge so gründlich entdeckt werden, "wie er es verdient", in Erfüllung gegangen ist, lässt sich heute, 50 Jahre nach seinem Tod, nicht eindeutig sagen. Vergessen ist er jedenfalls nicht, ja, man darf feststellen, dass er zumindest in München erstaunlich präsent ist. Im Literaturhaus beispielsweise, das ihn zu einer Art Hausgott erkoren hat, dessen Sprüche das Geschirr der dortigen Brasserie zieren, Sprachdenkmäler gewissermaßen, genau wie die Granittische und die ledernen Rückenlehnen, auf denen Graf-Zitate eingraviert sind - das alles ein Werk der New Yorker Konzeptkünstlerin Jenny Holzer.

Zum 50. Todestag präsentiert das Literaturhaus derzeit eine Ausstellung über Grafs Jahre im Exil, die bis zum 5. November zu besichtigen ist. Auch die Monacensia, wo Teile des Nachlasses lagern, pflegt das Andenken an den bayerischen Schriftsteller, der einen prominenten Platz in der dortigen Dauerausstellung hat. Zudem kümmert sich die Oskar-Maria-Graf-Gesellschaft seit 1992 um alle Belange ihres Patrons. Und er ist ein Autor, der für viele Künstler aktuell geblieben ist, allen voran für Gerhard Polt, dessen Graf-Lesungen schlichtweg großartig sind.

Na also, was will man mehr? Mehr Leser vielleicht. Die hätte er wirklich verdient. Schon deshalb, weil die heutigen Zeiten politisch prekär sind, und mit prekären politischen Zuständen hatte Graf Zeit seines Lebens zu tun. Er kannte sich aus mit Rechtsextremisten und Populisten, er hat am eigenen Leib und am Schicksal vieler Weggefährten erfahren, wie es ist, aus politischen oder rassistischen Motiven ins Visier eines moralisch enthemmten Regimes zu geraten. Sein Exil begann mit einer Lesereise nach Wien im Februar 1933. Er und seine jüdische Lebensgefährtin und spätere Ehefrau Mirjam Sachs wussten, dass sie im Nazi-Deutschland ihres Lebens nicht mehr sicher wären. Nach den Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 veröffentlichte Graf in der Wiener Arbeiter-Zeitung den fulminanten Appell "Verbrennt mich!", in dem er forderte, dass "meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbanden gelangen".

"Ich bin seit eh und je auf Seiten der ausgebeuteten Kleinen"

Graf war kein Mann, der in eine Partei, auch in keine linke, gepasst hätte, und schon gar nicht war er ein Ideologe, der das Leben der Menschen ins stählerne Korsett einer Idee zwängt. "Ich bin", schreibt er in einem Brief, "seit eh und je auf Seiten der ausgebeuteten Kleinen gegen die macht- und raffgierigen Großen, bin nie Mitglied irgendeiner Partei gewesen, weder der SPD, noch der KPD, weil ich gegen die Bonzen und für die Arbeiter bin und war. Ich bin seit vor dem Ersten Weltkrieg etwas wie ein religiöser Sozialist und selbstverständlich Pazifist (. . .) Also passt so ziemlich gar keine Bezeichnung auf mich, am ehesten noch ,linksradikal'."

Es ist diese Haltung, die in den besten Traditionen des Humanismus und, ja, auch des Christentums wurzelt, die ihn noch heute aktuell macht - so aktuell, dass dabei der Schriftsteller Graf, der große Erzähler, gelegentlich aus dem Blick fällt. Wer seine Romane liest, etwa "Wir sind Gefangene" oder "Das Leben meiner Mutter", gerät in den Sog einer außerordentlichen Sprache. Es ist, als würde ein Wundermann sprechen. Einer, der zugleich Kraftlackl und sensibler Menschenversteher ist. Einer, dem die passenden Worte einfach zufliegen. Und dabei erfährt der Leser vor allem eines: wie die Menschen ticken. Graf schaut genau hin, er kann sich einfühlen, er schildert, wie die Leute wirklich sind. Grafs "Helden" sind keine irgendeine Idee verkörpernden Kunstfiguren, sondern reale Menschen, mal leidend, mal niederträchtig, mal großartig, mal abscheulich, die einen dumm, die anderen gescheit und manchmal beides zugleich.

Graf ist ein bayerischer Schriftsteller, man hört den süddeutschen Ton, auch wenn er nicht im Dialekt schreibt. Aber er ist kein bayerischer Schriftsteller, wie es die Bavarica-Autoren sind, deren Jodlerstil ihm ein Graus wäre. Es hat ihn gewurmt, wenn man ihn in so eine Schublade steckte: "Widerstrebend und verärgert, musste ich es nun hinnehmen, dass man mich nur noch ,bayerisch' nahm. Und frecherweise bedeutet ja für Nicht-einheimische ,bayerisch' fast immer so etwas wie ein herzerfrischendes Hinterwäldlertum auf Bauernart, eine mit dem dicken Zuckerguss sentimentaler Verlogenheit reizend garnierte Gebirgsjodler-Idylle." Graf ist ein bayerischer Autor, weil er aus Bayern stammt und hier seine Themen findet. Die Literatur, die er daraus schöpft, und wäre ihr Schauplatz noch das entlegenste Kuhdorf, ist von europäischem Rang.

"Hierbleiben? Auf keinen Fall"

Als knapp Siebzehnjähriger war Graf im September 1911 in München angekommen. Es war eine Flucht, ein Davonlaufen vor dem unerträglichen Bruder Max, der nach dem Tod des Vaters die elterliche Bäckerei in Berg übernommen hatte und die Familie tyrannisierte. Es war aber auch ein Aufbruch, denn Graf wollte Dichter werden, womit er sich aber erst einmal schwertat. Den Militärdienst im Ersten Weltkrieg verkürzte er, indem er vortäuschte, verrückt geworden zu sein (vielleicht war er ja tatsächlich kriegstraumatisiert), er war dabei, als die Revolution losmarschierte, er arbeitete als Dramaturg der "Neuen Bühne", unterhielt Künstler und Bohemiens als Gaudibursch, feierte in den Zwanzigerjahren erste literarische Erfolge, ließ sich mit Mirjam in einer "gutbürgerlichen Wohnung" in der Hohenzollernstraße nieder.

Doch so richtig heimisch, so scheint es, hat er sich in München nur selten gefühlt. Da war in der Anfangszeit die zermürbende Plackerei in der Tivoli-Mühle, dann der unselige Krieg, selbst die Revolution, so schrieb er später, "war eine Posse", und das München der Zwanzigerjahre, die Hauptstadt der "Ordnungszelle Bayern", war ein Tummelplatz von Spießern, Reaktionären, Nationalisten und Faschisten. Auf New York, seinen letzten Exilort, hat er zwei Hymnen geschrieben. Hymnisches über München sucht man bei ihm vergebens.

Seine München-Besuche nach dem Krieg - die erste Reise fand 1958 statt - verliefen enttäuschend. Und zwar nicht nur, weil sein Auftritt in der kurzen Lederhose, mit der er zur Lesung im Cuvilliés-Theater erschienen war, als empörend empfunden wurde. Das hat ihm sogar Spaß gemacht, denn gewiss wollte er provozieren, als er sich mal wieder als Provinzschriftsteller kostümierte. Damals, im Sommer 1958, sagte er im Gespräch mit seinem Lektor Hans Dollinger: "Hierbleiben? Auf keinen Fall. Ich könnte hier nicht atmen, wo die Mehrheit so satt und selbstzufrieden dahinlebt (. . . ) Ich bin heute eigentlich Herrn Hitler dankbar, dass ich wegen ihm herausgekommen bin in die weite Welt. Man sagt mir immer, dass wir draußen in der Emigration stehen geblieben seien. Aber in welchem Maße man hier stehen geblieben ist, das habe ich mir nicht so vorgestellt."

Noch konkreter wird er in einem Brief vom 29. Juli 1959, den die Literaturwissenschaftler Ulrich Dittmann und Waldemar Fromm in ihrer soeben im Pustet-Verlag erschienenen Oskar-Maria-Graf-Biografie zitieren. Adressatin ist Anni Olschewski, die einzige Überlebende einer in der "Roten Hilfe" aktiven Familie. Graf schreibt: "Und da kamen mir in München die ,fröhlichen Kollegen' entgegen und streckten mir die sauberen Hände hin, als wär nie was gewesen. Ich wusste zu genau Bescheid und sagte nur jeweils ohne diese Hände zu drücken: ,Einen Moment, wo waren wir denn beim Herrn Hitler, Herr?' Das hat sie verschnupft, die feinen Herrn." In einem anderen Brief heißt es: "Berlin hat mir am besten gefallen - alles andre Westdeutsche ist satt, arrogant und von einer literarischen und politischen Frechheit, die ankotzt. München hasse ich geradezu schon."

Das klingt, als wäre er für immer fertig mit München. Umso erstaunlicher, dass nicht viel gefehlt hätte, und Oskar Maria Graf wäre doch wieder nach München gezogen. Eine wesentliche Rolle spielte dabei der damalige Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel, der sich in persönlichen Gesprächen und einer regen Korrespondenz darum bemühte, Graf zur Rückkehr zu bewegen. Und es schien, als hätte er Erfolg. Am 26. August 1965 schreibt Graf an Vogel: "Auf Ihre vielfachen Anfragen, ob ich nicht in meine ursprüngliche Heimat zurückkommen will, kann ich Ihnen heute nach langen, sehr eingehenden Überlegungen mein Jawort geben. Ich brauch Ihnen nicht zu sagen, dass mir dieser Entschluss nach fast dreißig Jahren Exil und Diaspora nicht leicht geworden ist und dass mir beim Überdenken der Schwierigkeiten, welche eine solche Rückübersiedlung mit sich bringt, etwas bange wird." Flugs bildete sich ein Freundeskreis, der unter anderem zwei Wohnungen - eine in Fürstenried, die andere in der Engelhardstraße - ausfindig machte. Doch es wurde nichts daraus. Graf ging es gesundheitlich schlecht, die Ärzte rieten ihm von einem Umzug ab.

Am Ende kehrt er doch nach München zurück

Wie passt das zusammen? Hier die Aversion gegen München, da die Bereitschaft, wieder zurückzukehren. Vielleicht ist es ja so: Wie übel ihm die Stadt auch mitgespielt hatte, so sehr er sich von den Münchnern als Schriftsteller verkannt fühlte - hier war doch jede Ecke mit Erinnerungen versehen, dies war der Ort seines Werdens als Schriftsteller, hier hat er gefeiert und gelitten, und vor allem: hier sprach man seine Sprache. Wie sollte einer, dessen Geschichten fast immer in Bayern spielen, im amerikanischen Exil - auch wenn er selbst dies verneint - nicht Heimweh fühlen?

Ende Juni 1968 steht wieder ein Artikel über Graf in der Süddeutschen Zeitung. Er beginnt mit den Sätzen: "Am 28. Juni 1967 ist Oskar Maria Graf in New York gestorben. Genau ein Jahr später wurde gestern Vormittag die Urne mit seiner Asche auf dem alten Bogenhausener Friedhof beigesetzt." Nun ist er doch nach München zurückgekehrt - als Häuflein Asche. OB Vogel und der Freundeskreis hatten sich darum bemüht. In einer bewegenden Traueransprache sagte Hans-Jochen Vogel: "Warum ist er dann trotz vieler Bemühungen, trotz guten Willens auf beiden Seiten zu seinen Lebenzeiten nicht mehr heimgekehrt?" Vogels Antwort: "In Wahrheit muss wohl eine heimliche Scheu vor der Rückkehr, ein unbewusstes oder auch bewusstes Zögern das eigentliche Hindernis gewesen sein. Und das ist wohl die letzte Konsequenz des Beispiels, das er gegeben hat: Er wollte nicht zurück in ein Land, in dem nach seiner Meinung und nach seinem Gefühl noch nicht alle Kräfte erloschen waren, die einst seine Flucht bewirkten."

Niemand vermag zu sagen, ob diese Heimholung tatsächlich im Sinne Oskar Maria Grafs war. Man könnte es so sehen wie der Literaturwissenschaftler Peter Fischer, der sarkastisch schrieb, es sei ein "Münchner Vordertreppenwitz, dass die Asche des Dichters heimgeholt und im Friedhof der Kulturprominenz an der Bogenhausener Kirche versenkt wurde". Aber das muss nicht das letzte Wort sein. Wenn es stimmt, dass Friedhöfe eher den Lebenden dienen als den Toten, weil sie Orte des Trosts und des Gedenkens sind, dann ist es gar nicht so verkehrt, dass Oskar Maria Grafs Asche in München bestattet ist. Vor allem hier sind die Menschen, die sich an seinen Geschichten nicht sattlesen können. Und die - warum sonst, wenn nicht zum Dank? - Blumen auf sein Grab legen.

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