Türkei kurz vor der Wahl:Im Namen Gottes in eine ungewisse Zukunft

Erdoğan Türkei Wahl

Der türkische Premierminister und Präsidentschaftskandidat Recep Tayyip Erdoğan mit seiner (halb verdeckt) Frau Emine auf einer Wahlveranstaltung in Istanbul.

(Foto: AFP)

Höhere Einkommen, bessere Gesundheitsversorgung, Tausende neue Straßenkilometer: Premier Erdoğan hat das Leben vieler Türken besser gemacht, doch sein Land durch eine islamisch-konservative Politik zugleich von Europa entfremdet. Kurz vor der Wahl zeigen seine Opponenten neues Selbstbewusstsein.

Kommentar von Christiane Schlötzer, Istanbul

Seinen Sieg hat Recep Tayyip Erdoğan längst gefeiert. Dort, wo sein Aufstieg als Bürgermeister vor genau 20 Jahren begann, in Istanbul. Vor einer jubelnden Menschenmenge versprach er vergangenen Sonntag, eine Woche vor der Präsidentschaftswahl, auch als Staatspräsident werde er "bis zum letzten Atemzug" der schlichte Mann aus dem Istanbuler Slum Kasımpaşa bleiben. Damit redete der Regierungschef seinen treuesten Anhängern aus dem Herzen. "Im Namen Gottes", fügte er hinzu und sprach ein Gebet. Die Menge sagte: "Amen".

Mit Gott und Erdoğan - das Erfolgsrezept der islamisch-konservativen Regierungspartei ruht auf einer schlichten, aber festen Basis. Fast alle Wähler der AKP sagen, es gehe ihnen im Jahr 2014 besser als vor gut einer Dekade, als Erdoğan erstmals eine nationale Wahl gewann. Die Errungenschaften sind greifbar: höhere Einkommen, bessere Gesundheitsversorgung, Erdgasanschlüsse, Tausende neue Straßenkilometer. Dass Frauen nun ein islamisches Kopftuch tragen und so eine Universität oder ein Finanzamt betreten können, empfinden konservative Türkinnen als Befreiung von staatlicher Bevormundung. Sie dürfen religiös und auch noch stolz darauf sein.

Die Hälfte der Türken strebt immer noch in die EU

Damit sehen sich Erdoğans Anhänger, auch wenn dies vielen Europäern paradox erscheinen mag, heute Europa näher als zu Zeiten kemalistischer Gesellschaftskontrolle. Religionsfreiheit gehört für sie zu den europäischen Werten. Staatsgründer Atatürk hielt nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs dagegen alle Religionen für Werkzeuge der Restauration. Seine Nachfolger blieben dabei. Sie wollten aus einem mehrheitlich muslimischen Volk eine laizistische Musternation machen. Wirklich gelungen ist das nicht. Aber ihre säkulare Tradition gibt der Türkei bis heute eine Sonderstellung zwischen Asien und Europa.

Viele Türken fühlen sich jedoch weder dem Nahen Osten nah noch von Europa akzeptiert. Eine internationale soziologische Untersuchung hat dies gerade bestätigt. Am allernächsten stehen die Türken, wie ein altes Klischee sagt, immer noch sich selbst. Das begünstigte lange Zeit Politiker in Ankara, die Nationalismus und Isolationismus predigten. Auch die Erdoğan-Partei ist von diesem Gift nicht frei, selbst wenn sie das Land weit mehr als alle Vorgänger für ausländisches Kapital geöffnet hat und eine atemlose Aufholjagd gegenüber anderen prosperierenden Volkswirtschaften propagiert.

Die Globalisierung macht vielen Türken jedoch eher Angst. Schutz bieten dagegen die Familie und die unmittelbare Nachbarschaft, selbst im städtischen Ballungsraum. Fragt man Türken, wo ihr Land Bündnispartner suchen soll, fallen nur den wenigsten islamische Nationen ein. Die Steinzeit-Kalifen im Irak erzeugen Schauder. Ägypten, Syrien, Saudi-Arabien - alles keine Vorbilder. Russland oder Amerika? Ebenso keine Wunschpartner, auch wenn reiche Türkinnen gern ihre Kinder in den USA gebären, damit ihnen ein US-Pass in die Wiege gelegt wird.

Ungefähr 50 Prozent der Türken fänden es dagegen nach neueren Umfragen immer noch gut, wenn ihr Land EU-Mitglied würde. Das erstaunt. Eigentlich herrscht zwischen Brüssel und Ankara Eiszeit. Man hat sich zwar nach dem wilden Gezi-Sommer 2013 darauf verständigt, die Beitrittsgespräche nicht ganz entschlafen zu lassen. Schon um jene jungen Türken nicht zu enttäuschen, die sich für Europas Grundwerte von der Polizei prügeln ließen: für Meinungs- und Demonstrationsfreiheit. Aber das ändert nichts an dem stillen Einverständnis in der EU, das lautet: Wir reden miteinander, aber das wird sowieso nichts.

Die alten Gegner der Türkei in Europa haben es nun leicht, sie verweisen auf den polternden Erdoğan und sagen: Der passt nicht zu uns. Die klein gewordene Schar der europäischen Freunde dagegen ist verunsichert. Das neue Selbstbewusstsein der islamischen Eliten zwischen Erzurum und Edirne ist ihnen fremd. Unabhängig davon, ob Erdoğan schon am Sonntag triumphieren wird oder erst zwei Wochen später in einer Stichwahl: Der weitere Weg der Türkei ist weniger klar, als es der Noch-Premier glauben machen will.

Weniger als zehn Prozent der Türken, die schon in Europa leben, haben sich von Erdoğans Einpeitscherei zu den Wahlurnen bewegen lassen. Das hat in Ankara überrascht. Erdoğans Opponenten sind aufgewacht. Auch Kurden, Säkulare und urbane Umweltschützer zeigen vor der ersten Volkswahl eines Präsidenten neues Selbstbewusstsein. Sie werden - Twitter-Verboten und Sultansgehabe zum Trotz - von ihren demokratischen Rechten Gebrauch und Erdoğan bei jeder kommenden Wahl mehr Konkurrenz machen. Das wird der Türkei guttun.

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