Europäische Union:Das Problem Juncker

Eurogroup Finance Ministers Meet In Brussels

Öffentlichkeit und Medien erhitzen sich an der Personalie Jean-Claude Juncker (Bild von 2011) - in Wahrheit aber ist seine Person zweitrangig.

(Foto: Bloomberg)

Alle streiten darüber, ob Jean-Claude Juncker neuer Chef der EU-Kommission werden soll oder nicht. Dabei ist diese Personalie zweitrangig. Viel wichtiger wäre eine echte Reform der Europäischen Union.

Ein Kommentar von Cerstin Gammelin, Brüssel

Der Begriff Reform stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie "zur Gestaltung zurückkehren"; also das Heft in die Hand zu nehmen, bestehende Verhältnisse in großem Stil und spürbar zu verändern. In der Römischen Republik etwa versuchten sich Volkstribunen daran, Landwirtschaft und Heer umzugestalten. 2000 Jahre später bemühen sich 28 europäische Länder, ihre kriselnde Gemeinschaft umzubauen.

Der Emanzipationsversuch des Europaparlaments hat die 28 Staats- und Regierungschefs in Zugzwang gebracht. Die Parlamentarier fühlen sich als die wahren Repräsentanten der Völker, sie wollen die Gemeinschaft gestalten und kontrollieren, was die von den nationalen Regierungen dominierte Europäische Kommission macht. Die Regierungschefs haben das Aufbegehren der Volksvertreter lange Zeit nicht ernst genommen, spät reagiert und die Folgen falsch eingeschätzt. In den vier Wochen seit der Europawahl haben sich alle zusammen dadurch in eine heikle Lage manövriert, die am Ende womöglich nur Verlierer produzieren wird.

Vordergründig dreht sich der Streit darum, ob die 28 Regierungschefs den Luxemburger Jean-Claude Juncker als Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorschlagen - gegen den Willen des britischen Premiers David Cameron und stillen oder halblauten Widerstand anderer Kollegen. Das Parlament droht, niemanden anderen als Juncker für dieses hohe Amt zu wählen. Der Grund: Juncker habe das bürgerliche Lager zum Sieg bei den Europawahlen geführt.

Die Personalie ist zweitrangig, wichtiger sind Reformen der EU

Die Öffentlichkeit erhitzt sich an dieser Personalie - in Wahrheit aber ist Juncker als Person zweitrangig. Entscheidend ist, dass der Name Juncker die Projektionsfläche für eine grundsätzliche, seit Langem überfällige Diskussion ist. Die nationalen Regierungen müssen sich einigen, wie das Europa der Zukunft gestaltet werden soll, was der gemeinsame Nenner aller 28 Länder sein und wie die Gemeinschaft ihre demokratischen und wirtschaftlichen Werte im globalen Wettbewerb behaupten kann.

Ein Blick auf das neue Europaparlament zeigt die Dringlichkeit. So wie es aussieht, gibt es rechts von den europäischen Christdemokraten (der EVP) drei größere Fraktionen - ein Viertel der Abgeordneten wird mithin populistisch, nationalistisch oder rechtsextrem abstimmen, jedenfalls europaskeptisch. Die Warnung der Wähler an das politische Establishment ist unüberhörbar. Die Europäische Union muss zum Gestalten zurückkehren. Sie muss der europakritischen Öffentlichkeit etwas anbieten, das überzeugt.

Mut zur Wahrheit

Die Regierungschefs haben den Ernst der Lage sicher verstanden. Ob sie gewillt sind, den von Kanzlerin Angela Merkel beschworenen "europäischen Geist" über nationale Interessen zu stellen, werden sie nächste Woche zu beweisen haben. Doch der jüngste Vorstoß aus Paris und Rom, den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufzuweichen und dies mit der Zustimmung zu Personalien zu verknüpfen, schürt Zweifel.

Sichtbare Form eines gemeinsamen Reformwillens wären hingegen ein klug geschnürtes Paket mit europapolitischen Prioritäten sowie die Bereitschaft, zu deren Umsetzung die EU-Kommission umzubauen; dazu ein mit dem Parlament abgestimmtes Personalpaket.

Das heißt in der Praxis: Die Zahl und der Zuschnitt der Kommissarsposten sollten nicht mehr von der Anzahl der EU-Länder abhängen, sondern von politischen Prioritäten. Die Kommission, die wichtigste EU-Behörde, sollte von einem Präsidenten und fünf oder sechs Vizepräsidenten geführt werden, deren Ressorts entsprechend politischen Zielen vergeben werden. Es kann zum Beispiel ein Ressort Wachstum und Wirtschaft geben, in dem Industrie-, Klima-, Umwelt-, Digital- und Verkehrspolitik koordiniert werden; oder ein Ressort Binnenmarkt, zuständig für Steuern, Finanzen, Haushalt und Wettbewerb. Die nationalen Regierungen können diese Reform der Kommission vorbereiten und im "europäischen Geist" dem Parlament vorschlagen. Anschließend ließe sich auch die Causa Juncker lösen.

Und zwar mit Mut zur Wahrheit: Cameron hat seine Kollegen aufgefordert zu sagen, was sie wirklich über einen Kommissionspräsidenten Juncker denken. Die Antwort ist absehbar. Sie schätzen ihn als guten Vermittler und Menschen, sicher aber nicht als fähigen Administrator. Im Parlament ist die Lage ähnlich: Niemand dort will Juncker der Person wegen, sondern aus Prinzip, weil er gewonnen hat.

Und so kann es kommen, dass zwar weder die Staats- und Regierungschefs noch die Parlamentarier glauben, dass Juncker der Beste ist, um die europäische Administration zu reformieren - dass sie ihn aber trotzdem wählen. Der Neustart der Europäischen Union wird bestenfalls ein halbherziger sein.

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