"Wild Germany" bei ZDF Neo:Wie man noch besser draufkommt

Journalist Manuel Möglich zu Gast bei einem Berliner Schamanen.

Journalist Manuel Möglich zu Gast bei einem Berliner Schamanen.

(Foto: ZDF/Michael Kappler)

Satanismus, Crystal Meth, Uniformfetisch, Pädophilie: Der Journalist Manuel Möglich besucht in der Dokureihe "Wild Germany" für ZDF Neo Milieus am Rande der Gesellschaft. Das Ergebnis ist erfreulich verstörendes Fernsehen - dem Verzicht auf Pädagogik sei Dank.

Von Marc Felix Serrao

Jesus und seine Jünger hatten eine "Substanz" im Blut, daran gibt es für Ewald Weigle keinen Zweifel. Zumindest beim Pfingstwunder müsse mehr als Wein im Spiel gewesen sein. Der Psychotherapeut und Anhänger der in Deutschland verbotenen halluzinogenen Dschungelpflanze Ayahuasca sitzt in einem weit geöffneten knallroten Hemd auf der Veranda seines Hauses in der Nähe von Stuttgart und erklärt, wie man es schafft: dass man noch besser draufkommt.

Für Ungeübte wie den anwesenden Fernsehreporter eigne sich zum Beispiel das "Integrationsatmen". Dabei müsse man erst eine Stunde lang hyperventilieren, anschließend kämen dann längst verloren geglaubte Erinnerungen wieder hoch - "bis zurück in den Mutterleib". Der Reporter, ein langhaariger, schlaksiger junger Mann mit Tätowierungen an beiden Armen, lächelt und sagt: "Herr Doktor Weigle, ich bin sehr gespannt!" Kurz darauf sieht man ihn mit bebendem Brustkorb zwischen zwei anderen ekstatisch zuckenden und stöhnenden Patienten im Behandlungszimmer liegen.

Wer sich in diesen Tagen gerade wieder fragt, was eigentlich mit den Gebührenmilliarden des öffentlich-rechtlichen Rundfunks alles passiert: Ja, Freunde, das hier gehört auch dazu. Zum Glück. Wild Germany heißt die Dokureihe, deren vierte Staffel von kommendem Donnerstag an jede Woche um 23.30 Uhr im Digitalkanal ZDF Neo läuft. Es gab hier und da Berichte über die Sendung, meist freundlich irritiert, aber den meisten Zuschauern dürfte das Ganze bis heute nichts sagen. Das liegt daran, dass es solche Dokuformate sonst nicht gibt. Vor allem liegt es daran, dass man sie nicht in einem verregelten System wie dem ZDF erwarten würde.

Ein Unikat im deutschen Fernsehen

Wild Germany sei eine Sendung über Themen, "die sonst in der Medienöffentlichkeit nicht vorkommen", erklärt Manuel Möglich, der langhaarige Kopf der Sendung, bei einem Treffen in einer Berliner Bar. Schamanismus, zum Beispiel, wie in der eben zitierten ersten Folge der neuen Staffel. Oder Satanismus. Crystal Meth. Uniformfetisch. Pädophilie - aus Sicht der kranken Männer.

Dass solche Themen sonst nicht stattfinden, stimmt so zwar nicht, vor allem nicht im Privatfernsehen, in dem jeder Lebensbereich, der sich irgendwie anzüglich oder gruselig darstellen lässt, schon zigfach ausgeleuchtet wurde. Aber Möglichs Sendung ist trotzdem ein Unikat - wegen ihrer Umsetzung. Wild Germany verzichtet auf etwas, das im deutschen Journalismus leider zum gut gemeinten Ton gehört: Pädagogik. Sei es mit Musik, Stirnfalten und besorgten Off-Kommentaren. Oder mit Häme: Randgruppe gefunden, Kamera drauf, Witz drüber. Wild Germany ist anders, zugeneigter. "Wenn wir uns über etwas lustig machen, dann gerne über mich", sagt Manuel Möglich. "Ich kann das ab."

Ein schönes Beispiel für die Bereitschaft des 34-Jährigen, sich selbst bloßzustellen, ist die Schamanismus-Folge. Nachdem er sich eine halbe Stunde lang ohne jede Häme von Anhängern der Naturreligion erklären lässt, was Bäume fühlen und wie er sein "Krafttier" findet, liegt Manuel Möglich selbst auf der Matratze und schnauft wie ein Walross. Hinterher begleitet ihn die Kamera auf einem Spaziergang durch die Abenddämmerung. Wie in Trance sei das gewesen, sagt er über Weigles Atemübung: "Ich saß in meinem Kinderzimmer, in meinem grünen Bett, und meine Mama saß an meinem Bett und hat mir Geschichten zum Einschlafen vorgelesen."

Andere, ältere Episoden sind ähnlich unvoreingenommen. In einer Folge über Satanismus etwa sieht man einen jungen Anhänger der "Church of Satan" mit viel Pathos und einem Miniaturaltar ein Ritual zur Beschwörung seiner Dämonen durchführen. Jede, wirklich jede andere deutsche Sendung hätte sich entweder lustig gemacht oder einen erzieherischen Kommentar drübergestülpt. Manuel Möglich tut nichts davon. Er hört neugierig zu, stellt naheliegende Fragen und hält dann drauf. Wie der Zuschauer das alles findet, bleibt ihm überlassen.

Erstaunlich uneitel für einen Fernsehmenschen

Im Gespräch wirkt der Reporter wie vor der Kamera. Offen, freundlich, interessiert und - für einen Fernsehmenschen - erstaunlich uneitel. Für welche Zielgruppe er seine Sendung mache? "Weiß ich gar nicht", sagt er. Wenn ihm das einfiele, dann würde er noch eine SMS schreiben. Es kommt nie eine an.

Wie landet so einer im Gebührenfernsehen? Nicht als Hausgewächs, das steht fest. Wild Germany ist eine Produktion des deutschen Ablegers der New Yorker Firma Vice, die als rotziges Popkulturmagazin angefangen hat und heute von Filmen bis zu Partys eine ganze Produktpalette anbietet. Erfunden hat das Format der Chef von Vice Germany, ein Brite namens Tom Littlewood. Fragt man ihn, was das Vice-Mäßige an der Sendung sei, spricht er über den Mut zum subjektiven Blick und ergebnisoffene Recherchen: "Viele Geschichten sind nicht so, wie wir sie gerne hätten oder uns vorher vorstellen. Das ist gut so. Man darf als Journalist nie sagen: Ich weiß, wie's ausgeht." Was für ein wunderbarer Satz.

Auf Reporter-Vorbilder angesprochen, fällt weder Littlewood noch Möglich jemand aus Deutschland ein. Der einzige Name, dem beide auf Nachfrage Respekt zollen, ist Louis Theroux. Das ist ein zierlicher, blitzgescheiter Brite, der seit den Neunzigerjahren Langzeitreportagen für die BBC über Randgebiete vor allem der amerikanischen Gesellschaft dreht, die bis heute Legendenstatus besitzen. Dass Wild Germany bei allen Stärken letztlich nicht an Theroux rankommt, liegt weniger am guten Willen, als am kleinen Budget - und dem Sender. ZDF Neo, dieser oft erfreulich freche Digitalkanal, wird in allem, was er tut, trotzdem immer eines bleiben: ein Satellit des Kampfsterns ZDF.

"Unser Redakteur ist bei der Themenfindung und natürlich bei jeder Rohschnitt- und Endabnahme dabei", erklärt Andrea Eisel die Zusammenarbeit zwischen Sender und Produktionsfirma. Die stellvertretende ZDF-Neo-Chefin ist für Wild Germany verantwortlich - also auch dafür, dass der Intendant und die Verwaltungsratsmitglieder nicht vor Schreck ihr Gebiss verschlucken. Die Rechtsabteilung des ZDF schaue sich jede Folge Wild Germany vorher an, sagt Eisel: "Gerade bei Themen wie Pädophilie ist es nötig, sich abzusichern. Und auf seinen juristischen Rat hin wird auch schon mal eine Sequenz heraus- oder umgeschnitten."

Dankbar für den Rat des Justiziars

Auf solche und andere Eingriffe angesprochen, gibt sich Manuel Möglich professionell abgeklärt. Die Zusammenarbeit mit dem ZDF sei "total angenehm". Auch für den Rat des Justiziars sei man dankbar.

Vielleicht muss man solche Dinge sagen, wenn man will, dass die eigene Arbeit ein Publikum findet, das sich an das Gewöhnliche gewöhnt hat. Vielleicht spricht so auch einer, der weiß, dass nach vier Staffeln über deutsche Randgruppen das natürliche Sende-Ende naht.

Ganz zum Schluss eines langen Gesprächs, bevor er in Kreuzberg in den klapprigen Kleinwagen seiner Freundin steigt, sagt Manuel Möglich noch etwas, das angesichts seiner eigenen Sendung erstmal überrascht: "Ich bewundere Claus Kleber." Der Heute-Journal-Anchorman sei ein toller Journalist, einer, der echt Ahnung habe. Aha. Und sonst so? "Ich glaube, Claus Kleber hat auch eine dunkle Seite. Wenn der immer so lächelt. . . Ich glaube, der hat schon mal ein Dominastudio von innen gesehen." Damit zurück nach Mainz.

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