Vor den Emmy Awards 2013:Wenn Amerika sich auskotzt

"Emmy Awards Press Preview Day"

Ein Foto vom "Emmy Awards Press Preview Day" am 18. September in Los Angeles: Längst Konkurrenz für die Oscars.

(Foto: AFP)

Sex und Paranoia - das amerikanische Fernsehen ist derzeit eine einzige Therapiestunde. Im Kino dagegen ist die Welt so schwer in Ordnung, dass die Künstler davonrennen. Der TV-Preis Emmy, der am Sonntag verliehen wird, läuft dem Oscar den Rang ab.

Von Anne Philippi

Der Drehbuch-Autor in Los Angeles fand vergangene Woche klare Worte. "Hollywood ist am Ende, was Filme angeht. Und Regisseure wie Oliver Stone haben wirklich keine Lust Iron Man 5 zu drehen. Nur das Fernsehen rettet sie." Am Tag danach bei Charlie Sheens Pressekonferenz zu seiner Show Anger Management dieselbe Hollywoodgenervtheit. "Filme drehen? Sorry, etwas Härteres gibt es gerade nicht", sagte einer seiner Produzenten.

Deshalb warten alle auf den Fernsehpreis, den Emmy, am Sonntag. Wer hier gewinnt, den liebt das Land. Der Emmy läuft dem Oscar außerdem den Rang ab. "Emmys, the new Oscars?" orakelt der Hollywood Reporter und meint aber erst mal nur, dass Designer jetzt auch Couture-Kleider für die Emmys rausrücken. Bis vor Kurzem undenkbar. Zu trashig. Nicht mehr. Finanziell, inhaltlich, karrieretechnisch ist TV und somit der Emmy für viele Hollywoodstars attraktiver denn je.

Auffällig ist aber vor allem, worum es in all den hollywoodfeindlichen Serien wie Homeland, Mad Men oder Breaking Bad oder Girls geht. Paranoia, Sex, Zwänge, ein schreckliches, merkwürdiges Sucht- und/oder Alkoholikeramerika, Angst und die Frage was ist, wenn die economy nicht doch noch mal besser wird und Obama Care versagt. Alles Themen, die in Blockbuster-Filmen nicht mehr auftauchen. Das Fernsehen in den USA ist derzeit eine einzige Therapiestunde, in denen Amerika sich auskotzt.

Und immer mehr Schauspieler oder Regisseure, vor allem solche, die nicht in Romantic Comedies sterben wollen, unternehmen immer radikalere Schritte Richtung Unabhängigkeitserklärung.

Der nominierte Kevin Spacey und sein Hausregisseur David Fincher machten kürzlich den Anfang mit House of Cards, ein Mehrteiler, nur für Netflix gedreht, dem Internetportal, auf dem man sich Tausende Filme für einen Spottpreis ansehen kann. Auf einer Konferenz in Edinburgh im August hielt Spacey eine flammende Rede für Netflix. "Die haben einfach gesagt, wir glauben an euch. Die Leute auf der Straße sprachen mich sogar auf die Serie an. Danke, dass Sie drei Tage aus meinem Leben mit Ihrer Serie rausgesaugt haben."

Die Rolle der Krieger und Risikofreudigen kam früher einer kleinen Gruppe in Hollywood zu, doch in Zeiten, in denen Jennifer Aniston eine Stripper-Mum in We're the Millers spielt und Johnny Depp immer nur Jack Sparrow, muss man den Glauben an Studios komplett verlieren.

Spaceys Attacke ist nur der Anfang. Das nächste Netflix-Ding ist Derek von Ricky Gervais, eine Comedyserie über ein paar Irre in einem britischen Altenheim, Hauptrolle: Gervais. Und Orange is the new black, die Show über eine beautygeschulte Frau, die wegen eines Delikts aus der Vergangenheit ins Gefängnis muss und feststellt, dass sie trotz eines guten Haarschnitts und Lauren-Hutton-Wangenknochen mit den harten Knastfrauen mehr gemeinsam hat, als ihr lieb ist. Ungefähr das, was Lindsay Lohan in ihren paar Knasttagen erlebt haben muss. Mieses Essen, kein Friseur und Mädchen, die zuschlagen.

Selbst das größte Kommerzfernsehen mit Teenagerklientel zieht am TV-Avantgardestrang mit. CW bekannt für Gossip Girl hat einen der heißesten Neu-Autoren zur Entwicklung eingekauft und den Stoff, um den es geht, könnte man sich derzeit in keinem Film vorstellen: Kyle Jarrow, dürrer Hipster aus Brooklyn, entwickelt die Serie ZE - ein Mädchen aus einer texanischen Familie möchte gerne als Junge weiterleben. "Transgender"-Dramen beschäftigen Amerika. Heimlich. Zu Hause bei Cher. Oder Warren Beatty, deren Kinder genau dieses "Problem" durchleben.

Das neue Fernsehen kreiert natürlich sofort neue Nutzerverhalten. Das sogenannte Binge Watching, also alle Folgen wenn möglich in einem Rutsch durchschauen, wird immer beliebter. Und zwingend. Die Leute wollen am nächsten Tage auf der Arbeit mitreden können. Twittern und Facebooken während der Serien nimmt auch zu. Nur Schauen ist vorbei. Ein Traum für die Serienautoren, sie können genau nachlesen, warum Don Drapers Affäre gestern nicht so gut ankam, der Shitstrom auf Twitter beginnt schon während der Folge. Eine neue Art von Dialog zwischen Konsument und Autor, beinahe Demokratie.

Die ganz neuen Serien im Herbst 2013 bleiben übrigens genau auf dem Anti-Kuschel-Kurs. Der Sender Showtime kommt mit Masters of Sex. Eine Serie über einen Fruchtbarkeitsspezialisten, der sich zum Sexforscher entwickelt. Michael Sheen in der Hauptrolle. (Charlie wäre darin auch gut gewesen). Der Schwerpunkt bleibt eben die heimlich dysfunktionale Existenz. Allen voran Mom. Eine Comedy-Show mit der großartigen Anna Faris, die in Interviews Chardonnay trinkt und Journalisten nach Hause einlädt, weil es da noch mehr Chardonnay gibt.

Es geht um eine single mom, die gerade aus dem Entzug kommt und mit ihrer trockenen Alkoholikermutter klarkommen muss. Noch ein großes Thema: Väter. Was ist ein Vater? Wie soll er sein? Darf er nur noch in Shorts und Turnschuhen bei Toys 'R' Us rumlaufen? Die Shows We are men (auf CBS) und Dads (auf NBC) fragen sich das, und es wird höchste Zeit. Wie oft sieht man in den Supermärkten amerikanische Männer mit Kinderwagen, die Sehnsucht in den Augen sich mal wie Don Draper anzuziehen und zu benehmen, statt wie jemand, der auf dem Spielplatz lebt?

Was aber ist denn eigentlich los beim Film? Warum benimmt sich Hollywood, als leide es unter Lagerkoller?

James Wolcott, Vanity-Fair-Autor, kann zum Beispiel bei Hollywood-Komödien nicht mehr zuschauen und schiebt die Schuld darauf. "Kotze, Sperma, Muttermilch - jede Flüssigkeit, die man werfen kann, dominiert und ist so voraussagbar. Als ob die meisten Regisseure ihren Kopf in einer Windel stecken haben." Judd Apatow, eigentlich ein guter und genialer Kopf und Co-Produzent von Girls ist zu so einem Fall geworden. Sein letzter Film So ist 40 würde in Wolcotts Kategorie passen. Komisch war nichts. Im Kino lachte niemand. Die Besten steigen aus Hollywood aus. Steven Soderbergh teilte neulich das Ende seiner Kinokarriere mit, er würde sich lieber nur noch um Theater und Fernsehen kümmern. Am schlimmsten seien seit Neustem die Meetings in Hollywood. Niemand weiß irgendetwas über Filme. Niemand interessiert sich für Filme. "Das ist extrem merkwürdig."

Absolute Staraura

Offenbar zahlt sich seine Begeisterung für das neue Medium gleich aus. Behind the Candelabra, ein Biopic über Liberace und seinen schwulen Liebhaber mit den zungenküssenden Michael Douglas und Matt Damon, hat Soderbergh 15 Emmy-Nominierungen eingebracht. Er brachte das TV-Drama auf HBO unter, nachdem ihm Hollywood sagte, der Film sei "zu schwul" für die Leinwand. Und das trotz Namen wie Douglas und Damon. Wahrscheinlich wäre heute sogar Ben Hur zu schwul. In Europa kommt der Film übrigens ins Kino.

Bei den Emmys am Sonntag geht es dieses Jahr vor allem um die Männer. Um Schwule, Nicht-Schwule, neue Männertypen, neue Männerlooks und neue Männermanieren stehen im Vordergrund. Da wäre Jon Hamm gegen Kevin Spacey gegen Bryan Cranston und gleich um die Ecke lauert schon das Supertalent Adam Driver, nominiert als der unmögliche Brocken und Irre aus Girls. Drivers Brachialität könnte nicht angenehmer sein und seine mongolischen Gesichtszüge und seine schlechten Brooklyn/Williamsburg-Manieren verschmelzen zur absoluten Staraura. Das muss am Fernsehen liegen, denn selbst Alec Baldwin sieht in 30 Rocks irgendwie heiß und revolutionär gut aus.

Die Revolution geht in den USA derzeit wirklich vom Fernsehen, und somit vom Volk aus. Am Sonntag wird es krachen.

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