US-Realityshow mit Überraschungserfolg:Wodka im Dampfbad

In der US-Serie "Russian Dolls" wird das Leben russischer Einwanderer auf Klischees reduziert: aufgespritzte Lippen, Saunapartys und Pelzmäntel. Dem Publikum gefällt's, echte US-Russen sind jedoch empört.

Michael Moorstedt

New York oder New Jersey - im Wettbewerb der Städte war der Sieger immer klar. Doch dann, im Jahr 2009, überholte das leicht provinzielle Jersey City auf der anderen Seite des Hudson River die Großstadt New York in einer eigentlich weniger schmeichelhaften Kategorie: mit der Zurschaustellung ihrer verdorbenen Jugend.

US-Realityshow mit Überraschungserfolg: Ein Wortspiel mit Wirkung: Russische Püppchen werden in "Russian Dolls" zum Quotenbringer für das schwächelnde MTV.

Ein Wortspiel mit Wirkung: Russische Püppchen werden in "Russian Dolls" zum Quotenbringer für das schwächelnde MTV.

(Foto: AFP)

Jersey Shore heißt die Serie, in der MTV in feinster Reality-TV-Manier Einblicke in das Leben der italo-amerikanischen Jugend am Strand von Jersey gewährt. Eine Handlung gibt es kaum, die jungen Leute lümmeln am Pool ihres Hauses herum, das ihnen der Sender zur Verfügung gestellt hat. Sie arbeiten im Make-Up- oder Muskelstudio an der Optimierung ihrer Körper, die Männer trinken ebenso ausgiebig Schnaps, wie die Frauen ihre sekundären Geschlechtsmerkmale zur Schau stellen. Mal wird geprügelt, dann wieder geküsst.

Nun hat der Kabelsender Lifetime der Stadt New York freundlicherweise ein Äquivalent beschert. Diesmal im Fokus: das Leben russischer Einwanderer. Russian Dolls heißt die Show in Anspielung auf die ineinander stapelbaren Matrjoschka-Puppen aus der alten Heimat. Die Protagonistinnen sind zwar weniger rundlich als die Püppchen aus Holz, aber immerhin ähnlich bunt bemalt.

Das Abo im Solarium gehört ebenso zur Grundausstattung wie der ausgiebige Gebrauch von Selbstbräuner, Strasssteinchen und Silikon. Gedreht wird in Brighton Beach, einer Gegend am südlichen Zipfel von Brooklyn, der die New Yorker den Spitznamen "Little Odessa" gegeben haben. Und die Besetzung gibt sich alle Mühe, der Konkurrenz auf der anderen Seite von Manhattan in Sachen Niveau-Limbo gerecht zu werden.

"Ich glaube an Botox und Silikon"

Mit den für das Genre üblichen unkommentierten Bildern überlässt es der Sender dem halben Dutzend russischen Amerikanern selbst, sich vor laufender Kamera zu blamieren. Dazu gibt es Geigen- und Akkordeonmusik aus dem Off. Die Frauen sind männerfressende Vamps mit aufgespritzten Lippen, die ihre Freunde nach dem Kontostand auswählen. "Die Frauen benutzen, was sie zwischen den Beinen haben, auch nur um an ein Gratis-Dinner zu kommen", sagt der kahle Eddie in radebrechendem Englisch. Dabei wolle er doch nur seiner Mutter "ein nettes russisches Mädchen" präsentieren.

Ihr Freund fährt zwar Maserati, ist aber Spanier

Man trifft sich im Banya, dem russischen Dampfbad, Champagner und Wodka fließen. Von der Galerie im ersten Stock aus schauen die Mütter dem Treiben ihrer verwöhnten Kinder zu. "Ich glaube an Botox und Silikon", sagt eine zu ihrer Freundin, in ihrer Stimme schwingt ein derartiger Pathos, als rede sie gerade vom American Dream.

Man sieht, dass beide wohl schon oft das Alter in ihren Gesichtern bekämpft haben; Status und Oberfläche sind alles, was zählt. Die Familien der meisten Darsteller sind zu Geld gekommen. Ihre Häuser sind Albträume aus Blattgold, Altrosa und protzigen Kronleuchtern, im Kleiderschrank warten die Pelzmäntel und in der Garage der Bentley mit kyrillischem Nummernschild. Wenigstens hält die Gemeinde zusammen. Die blonde Diana hat zwar einen Freund mit Maserati, doch der ist leider kein Russe, sondern Spanier. Also lässt sie ihn beim gemeinsamen Dinner fallen. Natürlich nicht ohne sich vorher ihr Essen einpacken zu lassen.

Mit Jersey Shore gelang dem ehemaligen Musiksender MTV im längst bis zum Erbrechen saturierten Reality-Genre ein Überraschungshit. Beinahe achteinhalb Millionen Zuschauer schalteten etwa die Folge vom 6. Januar 2011 ein. Für den lange siechen Sender das beste jemals gemessene Ergebnis.

Die beiden extrovertiertesten Protagonisten Nicole "Snooki" Polizzi und Michael "The Situation" Sorrentino tingeln als Stars mit Mindesthaltbarkeitsdatum durch Talkshows und Teleshopping-Sendungen. Mittlerweile läuft die fünfte Staffel, von Boston über Los Angeles bis nach Toronto gibt es ein halbes Dutzend Nachahmer-Shows. Zuletzt lieferte MTV das offizielle Spin-Off Geordie Shore, das sich den Eskapaden von Jugendlichen im nordostenglischen Newcastle upon Tyne widmet - die Stadt ist ihren gängigen Klischees zufolge proletarisch und strukturschwach. Die Quoten waren jedoch eher durchwachsen.

Die Presse vergleicht es mit der Folter im Gulag

Randgruppen bloßzustellen und Vorurteile zu verstärken war schon immer eine Kernkompetenz des Reality-TV und so ist es kein Wunder, dass sich bereits eine Woche nach dem US-Start von Russian Dolls Unmut regt in Little Odessa. Wütend fordern die Gemeindeoberen die Absetzung. Der Sender habe gelogen: Vor Drehbeginn habe Gena McCarthy, die verantwortliche Vizepräsidentin bei Lifetime, versichert, man wolle kein russisches Jersey Shore zeigen.

Schon kurze Zeit später sei in der Nachbarschaft aggressiv gecastet worden, unter anderem mit Flugzetteln auf denen gefragt wurde: "Bist du die russische Snooki?" Er sei enttäuscht gewesen, als er die ersten Trailer sah, sagte Alec Brook-Krasni, der Brighton Beach im New Yorker Regional-Parlament vertritt. "Die russische Gemeinde ist wohl eine der gebildetsten und erfolgreichsten Einwanderergruppen." Es gebe viele positive Dinge zu sagen.

Andere werden noch deutlicher. In der Online-Ausgabe der russischen Zeitung Pravda heißt es, mit der Show werde Russland ins Gesicht gespuckt. Und die New York Times schreibt in Anspielung auf den einst verbannten Autor von Der Archipel Gulag: "Wenn die Sowjet-Behörden Alexander Solschenizyn noch grausamer hätten foltern wollen, hätten sie ihn gezwungen Russian Dolls anzusehen."

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