US-Moderatorin Cheryl Wills:Tochter Afrikas

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Cheryl Wills vor dem Apollo Theater in Harlem, in dem der Schauspielerin und Bürgerrechtlerin Ruby Dee gedacht wird. (Foto: NY1)

Als die New Yorker Moderatorin Cheryl Wills ihren Ur-Ur-Ur-Großvater entdeckte, schrieb sie damit Geschichte. Nicht nur für ihre Familie, sondern auch für ihr Land kämpft sie gegen das tiefsitzende Trauma der Sklaverei.

Von Nikolaus Piper, New York

Die Geschichte beginnt mit einem schrecklichen Verkehrsunfall. Am 4. September 1980 rast Clarence Wills, ein 38-jähriger schwarzer Feuerwehrmann, auf dem Motorrad über die Williamsburg Bridge von Brooklyn nach Manhattan. Ein Autofahrer versucht, ihm ausweichen. Motorrad und Auto stoßen zusammen, Wills wird gegen einen Brückenpfeiler geschleudert und fast geköpft.

Cheryl, die älteste Tochter von Clarence Wills, ist damals 13 Jahre alt. Nicht nur der Tod des Vaters war ein Schock für sie, sondern auch, dass sich dessen Persönlichkeit vor dem Unfall verändert hatte. Eigentlich hatte Clarence alles erreicht, was er sich wünschen konnte. Er machte als einer der ersten Schwarzen bei der New Yorker Feuerwehr Karriere, er hatte eine Frau und fünf Kinder, die ihn vergötterten. Doch plötzlich ließ er sich gehen, er vernachlässigte seine Familie und interessierte sich nur noch für seinen Motorrad-Club. Die klinische Diagnose wäre wohl gewesen: Depression. Aber die stellte damals niemand.

Heute ist Tochter Cheryl Wills 48 Jahre alt und sitzt in einem Fernsehstudio in Chelsea. Sie ist ein Star unter den Moderatoren des Nachrichtenkanals NY1. Die Frage, warum das Leben ihres Vaters so früh endete, wurde das Thema ihres Lebens. Einer der Wege, sich damit auseinanderzusetzen, war das Studium der Familiengeschichte. Dabei entdeckte sie beinahe zufällig, dass einer ihrer Ur-Ur-Ur-Großväter, der noch in die Sklaverei geboren wurde, seinen Sklavenhaltern davongerannt war und als Soldat auf Seiten der Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte. Die Entdeckung veränderte ihr Leben. "Ich bin heute eine andere Persönlichkeit." Plötzlich gab es einen Helden in der Familie. "Ich bin sicher, mein Vater wäre noch am Leben, hätte er davon gewusst." Über alles schrieb sie ein Buch mit dem Titel Die Free ("In Freiheit sterben"). Es machte sie zu einer Berühmtheit in der Bürgerrechtsbewegung. Bei einer Feier für die Opfer der Sklaverei sprach sie vor den Vereinten Nationen.

Ihr Vorfahre wurde in die Sklaverei geboren und kämpfte im Bürgerkrieg

Bei den Debatten über soziale Probleme in den USA wird meist ein wichtiges Detail vergessen: Das Trauma von Sklaverei und Rassentrennung, das auch heute noch nicht verschwunden ist - mehr als 150 Jahre, nachdem Präsident Lincoln die Sklavenemanzipation verkündet hatte. Für fast alle Afroamerikaner klafft in der Familiengeschichte ein Loch: Irgendwann war da ein Mann oder eine Frau, die "wie Frachtgut" (Wills) über den Atlantik verschifft wurden, ohne Identität, ohne Vergangenheit, ohne Namen. "Keiner von uns hat auch nur eine Vorstellung davon, wo wir herkommen", sagt Wills. "Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn jemand Ihre Verbindung zu Deutschland komplett kappen würde."

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Es gab immer wieder Versuche, dieses Trauma zu verarbeiten. 1976 erschien der Tatsachenroman Roots. Autor Alex Haley versuchte, seine Familie bis auf Kunta Kinte zurückzuführen, einen jungen Mann, der angeblich im 18. Jahrhundert aus dem Gebiet des heutigen Gambia verschleppt wurde. Roots war Grundlage einer preisgekrönten TV-Serie, die auch in Deutschland lief. Allerdings war Haley mit Fakten freizügig, Kunta Kinte hat es wohl nie gegeben.

Mitglied der "United States Colored Troops"

Cheryl Wills' Geschichte dagegen ist gut belegt. Eines Abends im Jahr 2009 klickte sie auf ein Genealogie-Portal und stieß auf einen gewissen Sandy Wills aus dem Haywood County in Tennessee - dem Bezirk, aus dem ihr Vater stammte. Cheryl engagierte einen professionellen Ahnenforscher, der wies nach: Sandy war der Ur-Ur-Ur-Großvater von Cheryl Wills. Die Belege fand er im Nationalarchiv in Washington.

Sandy wurde 1840 in die Sklaverei in Tennessee geboren. Als er zehn Jahre alt war, kaufte ihn ein gewisser Edmund Wills. So wie das damals üblich war, nahm Sandy den Nachnamen seines Sklavenhalters an. Die große Wende brachte der amerikanische Bürgerkrieg. Im Oktober 1863 entkam Wills mit einem anderen Sklaven von der Baumwollplantage und floh ins benachbarte Kentucky, in dem es zwar Sklaverei gab, das sich aber auf die Seite der Nordstaaten gestellt hatte. Am 13. Oktober schrieb er sich bei der 4. Schweren Feldartillerie, Kompanie F, der Nordstaaten-Armee ein. Hinter seinem Namen steht im Nationalarchiv die Abkürzung U.S.C.T. Sie steht für "United States Colored Troops", also jene 175 Regimenter, in denen schwarze Soldaten für das Ende der Sklaverei kämpften.

Die Bedeutung der 200 000 schwarzen Soldaten für den Sieg der Nordstaaten ist kaum zu überschätzen. Die berühmteste Einheit ist das 54. Infanterie-Regiment aus Massachusetts, von dessen Schicksal der Film Glory mit Denzel Washington handelt. Für die schwarzen Soldaten bedeutete der Krieg ein besonderes Risiko. Sie mussten damit rechnen, im Falle einer Niederlage nicht gefangen genommen, sondern regelrecht massakriert zu werden. Der schwarze Freiheitskämpfer Frederick Douglass sagte ihnen: "Es ist besser frei zu sterben, denn als Sklave zu leben." Der Satz steht als Motto in Cheryl Wills' Buch.

Sandy Wills kehrte als freier Mann nach Tennessee zurück. Er pachtete ein Stück Land, heiratete, hatte Kinder und scheint ein armes, unauffälliges Leben geführt zu haben. Nach seinem Tod erstritt seine Witwe Emma von der US-Regierung eine Veteranenrente, den Rechtsanwalt stellte ihre ehemalige Sklavenhalter-Familie. Der Rentenantrag liegt in den Archiven, er war eine der wichtigsten Quellen.

"Wenn sie es herausgefunden hätten, hätten sie ihn umgebracht."

Die Ur-Ur-Ur-Enkelin erzählt die Geschichte von Sandy Wills heute vor Schulklassen, bei Seminaren und Vorträgen. Sie ließ ihre DNA untersuchen mit dem Ergebnis, dass unter ihren Vorfahren viele Angehörige des Volkes der Bamileke aus Kamerun sein müssen. Sie reiste nach Afrika und besuchte dabei die Insel Gorée vor der Küste Senegals. Dort steht ein "Sklavenhaus", von dem aus Sklaven verschifft wurden.

Eine Frage bleibt: Wie konnte so etwas wie der Freiheitskampf des Sandy Wills aus dem Gedächtnis der Familie verschwinden? Dafür gibt es eine sehr einfache Erklärung, sagt Wills: der Ku-Klux-Klan. Ausgemusterte Soldaten der Südstaaten hatten den Klan 1865 in Tennessee gegründet und errichteten eine Terrorherrschaft, die sich gegen Schwarze und "Yankees" richtete, also Amerikaner aus den Nordstaaten. "Die Soldaten, die für die Sklaverei gekämpft hatten, mochten keinen Sklaven, der seinerseits gekämpft hatte", sagt Wills. "Wenn sie es herausgefunden hätten, hätten sie ihn umgebracht." Im Übrigen habe sich ihre Familie in den Jahren der Rassentrennung mit den Verhältnissen arrangiert. Erst in den Fünfzigerjahren setzte sich ihr Großvater, ein Bluesgitarrist, in den Greyhound, um für sich und seine Familie in New York ein besseres Leben zu finden.

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Cheryl Wills gründete in New York eine Regionalgruppe der Sons and Daughters of the United States Colored Troups, ein Schritt von großer symbolischer Kraft. Der Name lehnt sich an den der Daughters of the American Revolution an, einer patriotischen Frauenvereinigung von Nachkommen der Revolutionäre von 1776 oder der Soldaten aus dem Unabhängigkeitskrieg. Außerdem gibt es noch die United Daughters of the Confederacy, die das Südstaaten-Erbe hochhalten. "Ich versuche, die Leute mit Respekt zu behandeln", sagt Wills. "Sie haben ihr eigenes Erbe. Aber man muss den Tatsachen ins Auge sehen: Die Konföderierten kämpften dafür, dass die Sklaverei für die Ewigkeit bleiben sollte."

Und dann muss es ja auch noch eine weiße Familie Wills geben, die Nachkommen des Sklavenhalters Edmund Wills. Es gibt Fälle, in denen die Familien ehemaliger Sklaven und ehemaliger Sklavenhalter in Verbindung geblieben sind. Die Familie von Senator John McCain, der 2008 die Präsidentschaftswahl gegen Barack Obama verloren hat, trifft sich regelmäßig mit der Familie von Lillie McCain, einer Psychologie-Professorin. Ihre Ur-Ur-Großeltern waren Sklaven auf der Plantage des Ur-Ur-Großvaters von Senator McCain.

Cheryl Wills hat nie versucht, die Nachfahren des Edmund Wills zu finden. "Ich möchte nicht, dass sich irgendjemand schuldig fühlt", sagt sie. "Es ist eine schreckliche Geschichte. Aber viele Länder hatten eine furchtbare Geschichte. Deutschland doch auch."

© SZ vom 15.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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