TV-Produktionen:Sie ist weg

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Auf dem Münchner Filmfest zeigte sich in diesem Jahr so deutlich wie selten, was das deutsche Fernsehen leisten kann - vor allem an Hans-Christian Schmids wunderbarer Serie "Das Verschwinden".

Von David Denk

Es gibt da diesen Satz, der hartnäckig dann auftaucht, wenn im deutschen Fernsehen ein guter Film gelaufen ist. "Also für deutsches Fernsehen war das gar nicht mal so schlecht", lautet dieser Satz, der einen wahren Kern hat, aber natürlich auch Unfug ist. Denn klar, das deutsche Fernsehen ist ein bisschen bieder und wirklich sehr Krimi-lastig, es ist oft quotenverliebt und deshalb dem Experiment nicht sonderlich zugetan. Aber daran, wie häufig jener Satz dann doch gesagt und geschrieben wird, lässt sich ablesen, dass deutsche TV-Produktionen oft sehr viel besser sind als ihr Ruf.

Es ist vor allem der aktuelle Großtrend zur anspruchsvollen Serie, bei dem das in 90-minütige Filme vernarrte deutsche Fernsehen bislang allerdings ziemlich hinterherhinkt. Mit Deutschland 83 sowie vor Kurzem Hindafing und 4 Blocks holte man zuletzt ein bisschen auf - und nun gibt es Das Verschwinden. Die Krimiserie von Hans-Christian Schmid ( Requiem, Was bleibt) ist - so viel Superlativ muss sein - nicht weniger als eine Sensation. Ein großer Wurf. Und zwar für jedes Fernsehen der Welt. Auf dem Filmfest in München feierte die Koproduktion von Schmids 23/5 Filmproduktion mit ARD Degeto, BR, NDR, SWR und der Prager Mia Film am Montag ihre Weltpremiere. Das Verschwinden erzählt die Geschichte der Suche einer Mutter nach ihrer vermissten Tochter: Die 20-jährige Janine Grabowski (Elisa Schlott) ist nach einer langen Disconacht plötzlich spurlos verschwunden, auch ihre Freundinnen Manu (Johanna Ingelfinger) und Laura (Saskia Rosendahl) wissen nicht, wohin. Wünschen ihr aber, dass sie den Absprung aus der bayerischen Provinz geschafft hat. Als Janines Auto am Morgen kurz vor der tschechischen Grenze auf einem Acker gefunden wird und darin ein Tütchen Crystal Meth, ist Mutter Michelle (Julia Jentsch) alarmiert. Die Hoffnung schwindet zunehmend, ihre Tochter unversehrt wiederzufinden und den Streit um ihre heimlich abgebrochene Ausbildung im Bauunternehmen von Leo Essmann (Sebastian Blomberg), dem Vater ihrer Freundin Manu, beizulegen. Je länger Michelle forscht, desto schmerzlicher wird ihr bewusst, wie wenig sie über ihre Tochter weiß. Ein Problem, das auch die Essmanns kennen, das aber besonders Mutter Steffi (Nina Kunzendorf)

Bitte melde dich: Michelle Grabowski (Julia Jentsch) sucht in Hans-Christian Schmids Miniserie Das Verschwinden ihre Tochter Janine (Elisa Schlott). Dabei geraten Gewissheiten ins Wanken. (Foto: Filmfest München 2017)

nicht wahrhaben will. Die achtteilige Serie, die von Ende Oktober an im Ersten um 21.45 Uhr in Doppelfolgen ausgestrahlt wird, ist auf eine Art herausragend, dass die anderen 19 Filme in der Festivalsektion "Neues Deutsches Fernsehen" im Vergleich eher gut gemeint als gut gemacht wirken. Da laufen keine wirklich schlechten Produktionen, aber eben auch wenig, das in Erinnerung bleiben wird. Leiterin Ulrike Frick, alleinverantwortlich für die Auswahl, erklärt auf Nachfrage, sie möchte das Fernsehen in seiner Vielfalt abbilden, zeigen, dass Qualität "auf ganz unterschiedlichen Niveaustufen vorhanden" ist, was dazu führt, dass ihr Programm nicht mit jedem Film für jeden Besucher das Versprechen einer Leistungsschau einlöst. Dass Das Verschwinden beim Bernd-Burgemeister-Fernsehpreis leer ausging, der an die beste Produktion der Sektion verliehen wird, liegt nur daran, dass laut Regularien ausschließlich TV-Filme zugelassen sind.

90-Minüter eben. Die diesjährige Auswahl von Filmen und Serien, die alle im Laufe der nächsten Monate hauptsächlich bei den öffentlich-rechtlichen Sendern zu sehen sein werden, machte im Grunde das ganze schon oft beschriebene Dilemma des deutschen Erzählfernsehens deutlich: Wenn den richtigen Personen die nötige Freiheit gegeben wird, können fantastische Dinge entstehen, im Film (zum Beispiel das mit Edgar Selge so wunderbar besetzte Drama So auf Erden) wie in der Serie. Die große Menge des deutschen Fernsehfilms, all die freundlichen Komödien, all die Kriminalfilme vor touristisch attraktiver Kulisse, ist zwar immer hochwertig produziert, aber eben oft nicht viel mehr als auf eine möglichst hohe Einschaltquote ausgelegte Konfektionsware.

Das alles ist Das Verschwinden nicht, das Zauberwort für die Faszination der Serie lautet: Präzision (Drehbuch: Hans-Christian Schmid und Bernd Lange). Provinz und Jugend, zwei Topoi, die in der deutschen TV-Fiktion sonst eigentlich nur als Klischee vorkommen, griffig, aber oberflächlich, werden derart komplex, tiefenscharf und stilsicher ausgeleuchtet, dass dies die Intensität der Inszenierung noch verstärkt: Hier ist alles stimmig, bis ins kleinste Detail von Wohnungseinrichtungen (Szenenbild: Heike Lange) und Klamotten (Kostümbild: Brigitta Lohrer-Horres).

Die Kameraarbeit von Yoshi Heimrath ist empathisch, aber nicht rührselig und nah dran, ohne aufdringlich zu sein. Und die Musik von The Notwist hält sich so vornehm zurück, dass sie manchmal auch schweigt und den Zuschauer seinen Gefühlen überlässt. So viel sei verraten: Es gibt viel zu verdauen. Karthasis? Von wegen.

Auch die Besetzung (Casting: Suse Marguardt, Nessie Nesslauer, Alexandra Koknat) verzichtet auf Effekte und Star-Geklingel, sondern stellt ausnahmslos Könner in den Dienst der Geschichte. Stellvertretend herausgegriffen seien die drei Mädchen und Mehmet Ateşçi in der Rolle ihres Freundes Tarik Karaman. Sie verkörpern das von der Provinz potenzierte jugendliche Wechselbad aus Lebenshunger und Verlorenheit derart eindringlich, dass man ihnen jeden Nachwuchspreis gönnt.

Mindestens genauso wertvoll wie das Produkt ist die Signalwirkung: Es gibt die Talente in Deutschland, man muss nur die richtigen Leute zusammenbringen und zusammenhalten. Ein Riesenbudget, wie es zum Beispiel Tom Tykwer für sein Babylon Berlin bekam, braucht es dafür nicht: Die beteiligten Sender haben sich Das Verschwinden sechs Millionen Euro kosten lassen, 90 Drehtage gab es für das Projekt. Nicht schlecht, aber auch nicht rekordverdächtig. Spannend wird nun, ob das Fernsehpublikum die auf dem Filmfest spürbare Begeisterung teilen wird. Und wie die ARD es verkraftet, wenn trotz allem keine Tatort-Quote für sie herausspringt.

© SZ vom 30.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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