TV-Kritik zu Anne Will:Es geht nicht um Merkels Zukunft - sondern um unsere

Anne Will

Oskar Lafontaine bei einem früheren Auftritt in der Talkshow Anne Will.

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Kriegt Merkel die Kurve? Das fragt Anne Will. Und nicht einmal Oskar Lafontaine will den Kanzlerinnen-Mörder geben.

TV-Kritik von Hannah Beitzer

Aus der Flüchtlingskrise eine Merkel-Krise machen, das wollte keiner

Wenn Umfragen eineinhalb Jahre vor einer Wahl immer so aussagekräftig wären, dann wäre die Piratenpartei 2013 mit 12 Prozent der Stimmen in den Bundestag eingezogen. Kein Grund also, dass man sich nach dem letzten ARD-Deutschlandtrend, der die Beliebtheitswerte von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem niedrigsten Stand seit 2011 sah, schon auf den Rücktritt der Kanzlerin vorbereiten muss. Kein Grund aber auch, dass man als Talkshow-Redaktion nicht trotzdem fragen kann: Merkel im Umfragetief - Kriegt sie noch die Kurve?

Darüber sprach Anne Will mit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, Linke-Politiker Oskar Lafontaine, dem Schriftsteller und Alt-68er Peter Schneider und Hans-Ulrich Jörges, Mitglied der Stern-Chefredaktion. Nach der ersten halben Stunde kann man sich schon fragen: Wohin genau soll sie die Kurve kriegen? Und wozu überhaupt? Denn aus der Flüchtlingskrise eine Merkel-Krise machen, das wollte keiner der Diskutanten.

Ursula von der Leyen findet die Politk der Chefin natürlich auch super

"Ich bin von der Richtigkeit ihrer Politik zu 100 Prozent überzeugt", sagt etwa Stern-Journalist Jörges. Und: "Ich glaube nicht, dass sie stürzt. Ich glaube nicht, dass sie zurücktritt. Das wäre nicht ihre Art, Verantwortung so auszuweichen." Wenn überhaupt müsste eine Revolte aus der eigenen Partei kommen - und da sei nun mal kein konsensfähiges Ersatzpersonal für Merkel vorhanden.

Und ihr "Wir schaffen das", das ihr heute so viele ankreiden? "Eine großartige Geste", findet Schriftsteller Schneider, "sie kann sehr stolz darauf sein." Ursula von der Leyen findet die Politik der Chefin natürlich auch super und ist auf Nachfrage von Will ausdrücklich nicht beleidigt, dass mit dem mangelhaften Ersatzpersonal in der Union auch sie gemeint ist. Linke-Politiker Lafontaine gibt immerhin sehr offen zu, dass er sich eine Einschätzung, was die Kanzlerin vorhat, nicht zutraut.

Kritik an der SPD

Um Viertel nach zehn, und das sagt ganz schön viel, spricht die Runde mit weit größerer Verachtung von der SPD als von Angela Merkel. Die sei, so formuliert es Schneider, eine Partei, die "ihrem besten Mann einen Waschlappen ins Gesicht schmeißt und dann sagt, man soll den wählen". Das mit dem besten Mann - womit Sigmar Gabriel gemeint ist - kann da nicht so stehen bleiben und wird von Jörges gekontert mit: "Der schmeißt sich einfach auf die Seite der Mehrheit und sagt: Ich denke so wie ihr." Außerdem geht es auch wieder viel darum, wie sich die SPD von Merkel die Sozialdemokratie klauen lässt.

Für die Agenda des Abends ist das eine etwas unglückliche Ausgangssituation. Aber Anne Will, ganz pain in the ass, bohrt und bohrt - und auf einmal sind sie da, die kleinen Erkenntnismomente, für die es sich dann doch lohnt. Die haben allerdings wenig mit der Frage zu tun, wie die politische Zukunft von Angela Merkel aussieht. Sondern eher damit, wie es im Inneren dieses Landes aussieht und was das für die Zukunft bedeutet.

"Wir können doch nicht sagen: Hier sind keine Fehler passiert"

Denn es gibt ja schon eine Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die sich in den schlechten Umfragewerten niederschlägt. Schneider ist der Erste aus der Runde, der kippt - und aus dem diese Unzufriedenheit herausbricht. Die Hälfte der Leute, die hier seien, hätten ja überhaupt kein Anrecht auf Asyl. Aber abschieben könne man viele auch nicht, weil ihre Heimatländer sie nicht zurücknähmen. "Wir können doch nicht sagen: Hier sind keine Fehler passiert. Das merken die Leute doch." Er mutmaßt etwas später, dass die Kanzlerin CSU-Chef Horst Seehofer nur deswegen seine ständigen Attacken durchgehen lasse, weil er sage, "was 80 Prozent der Leute denken".

Diese 80 Prozent hat er vermutlich aus dem Deutschlandtrend, der der Sendung ihren Titel gibt. 81 Prozent der Menschen glauben demnach, die Regierung habe die Flüchtlingskrise nicht im Griff. Nun sind die Befragten mit Sicherheit nicht alle auf einer Linie mit Seehofer, wie es Schneider suggeriert. Unter ihnen dürften zum Beispiel auch Flüchtlingshelfer sein, die finden: Der Staat muss sich mehr kümmern. Oder Leute, die der Regierung übel nehmen, dass sie den Familiennachzug von Syrern einschränken will. Das sind laut Umfrage 49 Prozent, nur 44 Prozent finden den Schritt gut.

Oder die Unzufriedenen könnten erschreckt sein von der sprunghaft ansteigenden Gewalt gegen Flüchtlinge, von Anschlägen, die kaum aufgeklärt werden - ein Thema übrigens, das den Talkshow-Redaktionen weit weniger wichtig ist als die Angst der Deutschen vor den Migranten. Elf Mal hatten die bis vergangene Woche in diesem Jahr schon Gewalt von Flüchtlingen zum Thema. Kein einziges Mal die Gewalt gegen sie.

Ständig über Angst zu reden, macht sie nicht kleiner

Aber ja, es gibt gerade nach Köln auch viele, die sich fragen: Wie schaffen wir das mit der Integration, wie vermeiden wir Fehler der Vergangenheit?

Das ist ganz schön viel, worum man sich Sorgen machen kann in Deutschland. Je nach Gemüt und Lebenssituation kann man auch Angst kriegen. Ständig über diese Angst zu reden, macht sie zwar nicht kleiner. Aber auch die naheliegende nächste Frage, was eigentlich zuerst angepackt werden muss, ist gar nicht so leicht. Es muss schließlich gleichzeitig um alles gehen: Um die Menschen in ihren Herkunftsländern, die Menschen an den Grenzen, die Menschen, die gerade angekommen sind und um die, die schon hier sind. Es geht um Integration, es geht ums Zusammenleben und um die Frage: Was sind wir eigentlich für ein Land - und was für ein Land wollen wir sein?

Für ein Deutschland, das innenpolitisch die vergangenen Jährchen im Dämmerschlaf verbracht hat, ist das eine Menge. Kein Wunder, dass manch einer durchdreht. Da hilft es wenig, dass Ursula von der Leyen von einer "Weltkrise" spricht: "Die kann man nicht in kürzester Zeit lösen." Man müsse den Menschen nun eben vermitteln, dass es keine schnellen Lösungen geben werde, so schwierig das auch sei, findet die Verteidigungsministerin.

63 Prozent der Deutschen fänden eine Obergrenze gut

Aber irgendwo anfangen, das muss die Politik. Und irgendwie weiterkommen muss auch die Talkrunde bei Anne Will. Ein Blick in die Umfrage sagt immerhin sehr deutlich: 63 Prozent der Deutschen fänden eine Obergrenze gut. "Wir werden irgendwann eine Obergrenze kriegen. Dass wir nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen können, ist ja Konsens zwischen allen Parteien", sagt denn auch Journalist Jörges bei Anne Will. Nur sei diese Obergrenze eben keine willkürlich gezogene, sondern könne nur in Form von gemeinsam in Europa verhandelten Kontingenten festgelegt werden. Pro Jahr 100 000 Flüchtlinge in Deutschland, nicht mehr, nicht weniger - und schon wäre alles fein.

Das sieht auch von der Leyen so und gibt zu: "Das ist der längere, der mühsame Weg." Denn anstatt einfach willkürlich eine bestimmte Anzahl an Menschen reinzulassen und dann die Grenzen dichtzumachen, müsse man sich gut überlegen: Wer kommt? Und wie? Die europäischen Nachbarländer müssen mitmachen - und die, das stellt Oskar Lafontaine heraus, haben seit der Griechenland-Krise nicht gerade das größte Vertrauen in Deutschland. Er bringt auch das Stichwort "Fluchtursachen" in die Runde ein. Für ihn ist zum Beispiel der "Rohstoffkrieg" der USA schuld am Flüchtlingselend. Die anderen Teilnehmer reden doch lieber über die Erfolgsaussichten von Syrien-Konferenzen.

Muss Deutschland nicht doch die Grenzen dichtmachen?

Während die einen jedoch über Fluchtursachen debattieren und mit europäischen Partnern verhandeln, gibt es andere, die sich damit gar nicht erst aufhalten und von der Angst der Deutschen profitieren. Stichwort: AfD. Wie will die CDU mit den Rechtspopulisten umgehen? "Sie konsequent stellen", sagt Verteidigungsministerin von der Leyen. Man könne nicht zulassen, dass AfD-Politiker sich "nur hinstellen und Sorgen der Menschen verbalisieren und zuspitzen - denn das tun sie." Man müsse ihre Vertreter nach Antworten fragen, wie sie sich konkrete Lösungen vorstellen: "Dann fällt ihnen ein, dass man auf Flüchtlinge schießen sollte - und da wollen wir ja nicht hin."

Das "wir" hat da durchaus seine Berechtigung, wenn es auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft abzielt. Der Umfrage der ARD zufolge ist die Mehrheit der Deutschen nach wie vor dafür, Bürgerkriegsflüchtlinge aufzunehmen - und, das zeigte eine andere Umfrage, gegen Waffengewalt an den Grenzen. Ihnen klarzumachen, dass diese Haltung auch Unannehmlichkeiten und Unsicherheiten mit sich bringt, ist auch Aufgabe der Regierung. Was diese Unannehmlichkeiten und Unsicherheiten sein können, das muss Anne Will von der Leyen allerdings immer wieder aus der Nase ziehen: Was, wenn alles nicht klappt? Die Kooperation mit den EU-Partnern und den Nachbarländern der Krisenregionen nicht, die ganzen Syrien-Konferenzen nicht? Muss Deutschland dann nicht doch die Grenzen dicht machen?

Das will von der Leyen explizit nicht, die Auswirkungen auf Europa wären fatal. Sie sagt schließlich düster: "Wir alle haben in der Euro-Krise erlebt, was passiert, wenn Europa in den Abgrund blickt." Genau derart vage Aussagen hatte der bekennende Merkel-Fan Jörges jedoch bereits zu Beginn der Sendung als den seiner Meinung nach größten Fehler der Regierung kritisiert: Sie flüchte sich in Allgemeinplätze, kommuniziere nicht, was wirklich Sache ist.

Das stimmt. Denn auch wenn Frau von der Leyen vielleicht ganz konkrete Vorstellungen von den negativen Folgen für Europa hat - es wäre besser für die zukünftige Diskussion, wenn sie den Stand der Dinge und mögliche Folgen der Bevölkerung nüchtern und ohne Untergangsgeraune unterbreitet. Denn das schafft im Zweifelsfall nur noch größere Angst. Und verstellt so im schlimmsten Fall den Blick darauf, was gerade wirklich Sache ist.

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