TV-Kritik: Natascha Kampusch:"Ich werde geächtet"

Die behutsame ARD-Doku "3096 Tage Gefangenschaft" zeigt, wie Natascha Kampusch in der Hand ihre Entführers überleben konnte - und offenbart ihr Geheimnis.

Ruth Schneeberger

Als ob dieses Mädchen nicht schon genug erlebt hätte. Andere junge Damen ihres Alters hungern sich gerade den Babyspeck ab und stolzieren in Pumps vor dem Spiegel umher, um für ihren großen Fernsehauftritt bei Heidi Klum zu üben. Natascha Kampusch hingegen ist froh, wieder ein bisschen mehr Kilos auf die Waage zu bringen als vor drei Jahren. Ihre Schuhe wurden verbrannt, als sie zehn Jahre alt war - damit sie ihrem Entführer nicht weglaufen konnte.

TV-Kritik: Natascha Kampusch: "Ich habe ihm schon in der ersten Sekunde verziehen": Natascha Kampusch spricht in der in der NDR-Doku in der ARD am Montagabend über "3096 Tage Gefangenschaft".

"Ich habe ihm schon in der ersten Sekunde verziehen": Natascha Kampusch spricht in der in der NDR-Doku in der ARD am Montagabend über "3096 Tage Gefangenschaft".

(Foto: Foto: NDR/Securitel)

Über fehlendes mediales Interesse kann sich die 21-Jährige nicht beklagen. Als sie im Sommer 2006 auf der Flucht vor ihrem Entführer durch die Vorgärten eines Wiener Vorortes irrte, hatte sie sich aus einem achteinhalbjährigen Martyrium befreit, das sie in einem schalldicht isolierten Kellerverlies zugebracht hatte.

Dass ein Zeuge gesehen hatte, wie eine Zehnjährige in einen weißen Lieferwagen gezerrt worden war, dass ein Polizist seine Kollegen sogar auf den verdächtigen Täter hingewiesen hatte, der kontaktscheu in einem elektronisch gesicherten Haus lebe, einen weißen Lieferwagen fahre und vermutlich in Waffenbesitz sei, all das hatte nicht zu ihrer Rettung beitragen können. Das musste sie schon selber machen.

Und trotzdem schlägt der 21-Jährigen immer wieder Misstrauen entgegen: So sieht doch kein Opfer aus. Blond, hübsch, selbstsicher - hinter dieser Fassade vermutet man kein Mädchen, das fast die Hälfte seines Lebens in Gefangenschaft verbracht hat. Das Martyrium geht weiter. Die Hölle, das sind die anderen.

Deshalb ist es gut, dass es diese Dokumentation gibt: Unter dem Titel "3096 Tage Gefangenschaft" kommt Natascha Kampusch in der ARD selbst zu Wort. Sie sitzt in einem abgedunkelten Raum, spricht leise, aber meist gefasst. Nur manchmal gerät sie ins Stocken. Dann werden Bilder eingespielt von dem Haus, in dem sie festgehalten wurde.

Das Wohnzimmer mit Schrankwand und Bücherregal, die Küche mit der Wald-Tapete - hier hat der "Täter", wie Kampusch ihn durchweg nennt, das Haus seiner Mutter übernommen und seit den siebziger Jahren kaum etwas verändert. Dieses Haus gehört nun Natascha Kampusch, im Rahmen der Opferentschädigung.

Man sieht das Kellerverlies, in dem sie all die Jahre eingesperrt blieb. Auch ohne die Geräusche zu hören, die dem Mädchen den letzten Nerv raubten, ohne das Klappern des defekten Ventilators, das sie als Psychoterror empfand, und auch ohne die Zeitschaltuhr, die ihren Tagesablauf regelte und es Nacht und Tag werden ließ, ist der winzige kahle Raum mit den nackten Wänden und den offenen Leitungen, ohne Heizung, ohne Fenster, ein Hort des Grauens. Immer noch. Natascha Kampusch wird ihn nun zuschütten lassen.

Doch die Stimmen derjenigen, die die Tat nicht fassen können und deshalb die Schuld bei ihr suchen, die kann sie nicht stoppen.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum Kampusch überlebt hat.

"Ich bin kein Opfer"

"Ich werde geächtet", sagt Kampusch - und liefert gleich noch eine Erklärung mit: "Ich habe das Wort 'Gewaltopfer' auf der Stirn. Wertfrei werden mir nur jüngere Menschen begegnen können, die das alles nicht miterlebt haben." Und später, wenn TV-Autor Peter Reichard den unfassbaren Fall noch einmal 45 Minuten hat Revue passieren lassen, nachdem der Zuschauer daran erinnert wurde, dass die Polizei genügend Hinweise auf das Versteck hatte, dass das Mädchen womöglich hätte gerettet werden können, ganz zum Schluss wird Natascha Kampusch noch etwas Schlaues sagen:

"Ich habe gesagt, dass ich kein Opfer bin, weil ich wusste: Wenn ich das allen sage, würden sie mich nachher nie mehr als normalen Menschen akzeptieren. So sind die Menschen. Ich wünschte, dass sie einen natürlicheren Umgang mit mir haben. Ich habe auch eine Chance verdient. Die Menschen sollten sich freuen, dass ich das alles halbwegs überstanden habe."

Das Mädchen durfte nicht weinen

Es ist die Stärke des Films, dass er Natascha Kampusch selber sprechen lässt. Da wird nichts aufgebauscht. Die Perversionen, denen sie täglich ausgeliefert war, die kranke Psyche ihres Entführers, entwickeln umso mehr Wucht, als Kampusch sie wie beiläufig schildert - sie gehörten nun mal jahrelang zu ihrem Tagesablauf.

Wolfgang Prikopil wollte nicht, dass das Mädchen weint. Deshalb hat er ihr die Tränen in die Gesichtshaut eingerieben. "Er wollte nicht, dass die Salzsäure seine Kacheln angreift", schildert Kampusch. Wenn sie irgendwo Fingerabdrücke hinterließ, wischte er sie mit ihrem Handrücken ab - weniger, um Spuren zu verwischen als aus einem krankhaften Putz- und Ordnungszwang heraus. Doch dann kauft er ihr Bücher, Lexika, Philosophisches. Als sie älter wird, darf sie manchmal nachts für zehn Minuten in den Garten. Die Hecke streicheln, das Gras spüren, frische Luft atmen.

Als er sie später sogar mit zum Baumarkt nimmt, nicht ohne ihr einzuschärfen, er werde alle umbringen, sollte sie jemanden auf sich aufmerksam machen, geraten sie in eine Polizeikontrolle. Natascha versucht, den Beamten mit Blicken auf sich aufmerksam zu machen. "Aber der schien nicht so intelligent zu sein und dachte wahrscheinlich, ich hätte einen epileptischen Anfall. Er hat den Wagen durchgewunken."

"Der Kampfgeist hat mich am Leben gehalten"

Leise erzählt dieser Film von großer Bösartigkeit, zurückgenommen lässt er die Bilder sprechen, aus seiner Protagonistin macht er keine Heldin. Dennoch kommt man nicht umhin, die junge Frau zu bewundern für ihre Stärke: "Wenn man da so im Finstern eingesperrt ist", erzählt sie, "jeglicher Strom ist abgestellt und man hungert - dann fragt man sich schon: Was hat das noch für einen Sinn? Aber gerade deshalb, weil das so eine himmelschreiende Ungerechtigkeit ist, gerade deshalb darf man sich nicht unterkriegen lassen. Damit würde man sich ja geschlagen geben. Es ist der Kampfgeist, der mich am Leben erhalten hat."

Und nicht nur der: "Dass der Täter so wurde, (...) dass er jemanden kontrollieren und demütigen und quälen musste, (...) das muss aufgrund einer Kränkung, einer Verletzung dazu gekommen sein (...), wahrscheinlich hat man ihn als Kind so behandelt. Das hat in mir eine Art Mitleid erweckt mit dem Täter. Das Geheimnis, warum ich das die ganzen Jahre so durchstehen konnte, ist, dass ich ihm das in der ersten Sekunde schon alles verziehen habe. Wenn ich das nicht gekonnt hätte, wäre ich so voller Hass gewesen, dass ich wahrscheinlich auch psychisch zugrunde gegangen wäre."

Es ist ein kleiner Film über ein großes Mädchen, der wütend macht, aber zugleich Hoffnung weckt. Die Hoffnung, dass auch andere Opfer das so sehen können. Denn das Böse, das wird bleiben. Nur die Frage, wie man damit umgeht, die scheinen bisher wenige so gut gelöst zu haben wie Natascha Kampusch.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: