TV-Kritik: Maybrit Illner:Am runden Tisch der Talkshow

ZDF-Talkerin Maybrit Illner versucht sich an einem eigenen runden Tisch zum Kindesmissbrauch. Nur die Doppelrolle eines Star-Autoren macht ihr zu schaffen.

Alexander Kissler

Am heutigen Freitag konstituiert sich der "Runde Tisch zum Kampf gegen Kindesmissbrauch". Unter Vorsitz von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder und Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sollen 61 Teilnehmer die Lage klären, Missbräuche benennen, Maßnahmen beraten. Am Abend zuvor lud Maybrit Illner ins ZDF-Studio. Sehr holprig war die Veranstaltung betitelt: "Geht der Verrat an unseren Kindern immer weiter?"

Maybrit Illner, Foto: ZDF

Führte durch eine gelungene Sendung zum Thema Kindesmissbrauch: Moderatorin Maybrit Illner

(Foto: Foto: ZDF)

Ähnlich diffus wie die Überschrift wurde die Talkshow dann Gott sei Dank nicht. Es war von keinen anonymen Mächten, die "unsere Kinder" irgendwie bedrohen, die Rede. Ganz konkret wollte die Moderatorin wissen: Wo haben "Kirchen, Schulen, Sportvereine, Familien" versagt? Was ist zu tun, um künftig Schaden an Leib und Seele von den Nachgeborenen fernzuhalten?

Am weitesten fortgeschritten ist die Debatte bei den kirchlichen Würdenträgern. Fast schon eine Routine des Klagens und Anklagens, der Reue und Scham hat sich ausgebildet. Per Einspieler wurden die Erkenntnisse über das Klosterinternat Ettal zusammengefasst. "15 Patres und auch weltliche Erzieher" sollen vor 1990 über 100 Kinder gequält und missbraucht haben.

Der ehemalige Sonderermittler Thomas Pfister saß neben dem ehemaligen Schüler Hubert Kastner. Der ermittelnde Rechtsanwalt sprach vom "Gewaltregime" hinter Klostermauern und lobte den Münchner Erzbischof Reinhard Marx für seine "Geradlinigkeit". Kastner hingegen, vor 47 Jahren brutal geschlagen (nicht missbraucht), verblüffte mit dem Satz: "Mit einer großzügigen Abfindung könnte ich es absegnen." Unklar blieb, wie ernst der Satz gemeint war: Schmerzensgeld statt Aufklärung?

Die Familienministerin warb dafür, hinter der Institution nicht den einzelnen Täter aus dem Blick zu verlieren. Erst beim zweiten Teil jedoch, der sich dem sexuellen Missbrauch an weltlichen Internaten widmete, an den allesamt reformpädagogisch orientierten Einrichtungen Schloss Salem, Birklehof und Odenwaldschule, setzte sie eigene Akzente: "Der Becker, der Becker, der findet Jungens lecker."

Pädagoge Bueb und die "Führungsfrage"

Kristina Schröder kennt den Reim, in den die Schüler der Odenwaldschule das Entsetzliche kleideten, den systematischen sexuellen Missbrauch von Knaben durch den damaligen Internatsleiter Gerold Becker. Pädagoge Bernhard Bueb, der Salem geleitet und an der Odenwaldschule unterrichtet hatte, war Illners Expertengast hierzu.

Wenig überraschend urteilte der Bestsellerautor (Von der Pflicht zu führen), es handele es sich um eine "Führungsfrage". An "gut geführten Schulen" gebe es keine Übergriffe. Ein solches Wortmanöver landet aber bei der Tautologie. "Gut geführt" meint dann nichts anderes als die Abwesenheit von Übergriffen.

Heikle Diskussion ohne Dampfplauderei

Und worin bestand eigentlich die schlechte Führung, die Bueb vorübergehend praktiziert haben muss, da unter seine Ägide das Schloss Salem keine missbrauchsfreie Zone war? Immerhin gestand er, bezogen auf die Odenwaldschule, seine "Naivität vor dreißig Jahren" ein.

Maybrit Illner verwirrte Buebs Doppelrolle als Ankläger der Kirche und Apologet in eigener Sache derart, dass sie biblisch wurde: "Jegliches hat seine Zeit", sagte sie sehr schnell und meinte das Beschweigen und Wegschauen damals - und das Reden und Bereden heute.

Auch bei den Sportvereinen gilt der Zusammenhang. Im Filmchen erklärte der 12-jähige Hagen in wohlgesetzten Worten, wie ein ehemaliger Judolehrer "mein Unterbewusstsein verstellt hat". An 211 Jungen hat sich der im Januar zu über sechs Jahren Haft verurteilte Judoka vergangen.

Eine Mutter zweier Kinder aus Rosenheim hingegen berichtete von den Penis-Spielen des örtlichen Eishockeytrainers. Unter der Dusche mussten ihm die Kinder dabei zusehen. Das Verfahren wurde aber eingestellt.

Ministerin Schröder empfahl als Präventionsmaßnahme: An den Schulen müsse man den Kindern klarmachen, "der Täter hat immer schuld", wehrt euch, schämt euch nicht.

Einen anderen Ansatzpunkt wählte Ursula Endres. Die Leiterin der Kölner "Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen - Zartbitter e.V." riet den Erwachsenen, sich viel stärker mit den "Täterstrategien" zu beschäftigen. Überhaupt war Ursula Endres das belebende Element einer ansonsten gedämpften Unterhaltung.

Sie wies darauf hin, dass es neben Tätern auch Täterinnen gibt, dass die Vielzahl der Missbrauchsfälle, rund 90 Prozent, von "ganz normalen Vergewaltigern" und nicht von pädosexuellen und also unheilbaren Triebtätern begangen werde, und dass viele Täter dazu angestiftete Jugendliche oder Kinder seien. Außerdem habe die Politik es bisher versäumt, das Recht der Opfer auf Hilfe gesetzlich zu verankern. Die Folgen seien dramatisch: "Es gibt kaum Therapieplätze für Kinder."

Tatort Familie

Ministerin Schröder hörte es sich wohlgefällig an. Der runde Tisch müsse zu Ergebnissen gelangen. Ihr schwebt eine "Selbstverpflichtung für die Institutionen und für den Staat" vor. Auch ohne konkrete Anschuldigungen müssten dann die Träger von Schulen, Internaten und Vereinen wachsam sein, Offenheit fördern, Ehrlichkeit kultivieren. Dann erklang schon die Schlussglocke, und ein zwiespältiger Eindruck blieb.

Diesem Maybrit Illner Spezial ist es gelungen, ohne Dampfplauderei, ohne Rechthaberei und ohne Getöse ein heikles Thema sensibel zu diskutieren. Umso bedauerlicher bleibt es, dass entgegen der Ankündigung der hauptsächliche Tatort sexueller Übergriffe komplett ausgespart blieb: die Familie. Ob es daran lag, dass man dann zu den neuralgischen Punkten unserer Gesellschaft hätte vorstoßen müssen - dem Status der Frau, dem Bild des Mannes und dem vorzeitigen Ende der Kindheit?

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