TV-Kritik: Maischberger zum Thema Missbrauch:Schaut hin!

Kein leichter TV-Abend: ARD-Talkerin Sandra Maischberger diskutiert mit ihren Gästen über sexuellen Missbrauch - und ungehörte Hilferufe. Er habe sich vom Jugendamt sagen lassen müssen, er sei "lästiger wie 'ne Scheißhausfliege", berichtet Opfer Björn Becher, der Stiefsohn des "deutschen Fritzl".

Hannah Beitzer

Sexueller Missbrauch ist kein Thema, das sich für das übliche Talkrunden-Kasperltheater aus lautstark aufeinanderprallenden Meinungen eignet. Allein, weil sich alle einig sind, dass es sich hier um ein abscheuliches Verbrechen handelt. Dementsprechend ist die Diskussion bei Sandra Maischberger zum Thema "Ein Jahr Kampf gegen sexuellen Missbrauch: Wie machtlos sind wir?" die meiste Zeit angemessen sachlich und vor allem: mitfühlend.

Abschlussbericht zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs

Auch Christine Bergmann diskutierte mit bei Sandra Maischberger: Die frühere Familienministerin hatte am Dienstag ihren Abschlussbericht zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs vorgestellt.

(Foto: dpa)

Christine Bergmann, die Bundesbeauftragte zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, ist ohnehin keine Anhängerin von Krawall - sichtlich erschüttert trägt sie die Ergebnisse ihres Abschlussberichts vor, den sie am Dienstag veröffentlicht hat. Sie sieht müde aus, als sie von der ungeheuren Zahl an Telefonaten und Zuschriften spricht, die sie erreichen.

Es lässt sich nur schwer verdauen, was die Gäste erzählen

"Wo ich gehe und stehe, werde ich angesprochen", erzählt die ehemalige Familienministerin. Bei den meisten Menschen, die sich an sie wenden, liege der Missbrauch schon Jahre zurück. Sie gerät aus der Fassung, als sie gefragt wird, wie alt der jüngste Anrufer war: "Sechs Jahre alt."

Sechs Jahre alt. Schon da ist klar: Es wird kein leichter Abend bei Sandra Maischberger, allzu schwer nur lässt sich verdauen, was vor allem zwei Gäste erzählen: Isabel Brockhöfer, die als Kind von ihrem Adoptivvater missbraucht wurde und sich mit 13 Jahren ihrer Großmutter anvertraute. Und Björn Becher, Stiefsohn des "deutschen Fritzl" Detlef S., der vor zwei Monaten zu 14 Jahren Haft und anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt wurde.

Jahrelang hatte der schmächtige Mann seine Familie terrorisiert, die Kinder und Stiefkinder geschlagen und missbraucht und mit seiner Stieftochter acht Kinder gezeugt. Erst im vergangenen Jahr wurde er verhaftet, obwohl sich mehrfach Nachbarn, Lehrer und sogar Björn Becher selbst an das Jugendamt wandten, wie der junge Mann erzählt.

Becher schließt die Augen und schluckt, während Isabel Brockhöfer ihren Fall erzählt. Die zierliche Frau hält sich sehr gerade. Eloquent ist sie, spricht in klaren, knappen Sätzen. Sie hat den Verein "Gegen Missbrauch" gegründet und ist, wie sie sagt, "schon relativ weit in der Aufarbeitung".

Warum sie so lange geschwiegen hat? "Das Stichwort ist Manipulation", antwortet sie knapp auf Maischbergers Frage. Ihr Adoptivvater redete ihr ein, ihre Mutter würde krank, wenn sie etwas verraten würde. Außerdem spricht sie von einem "völlig übersexualisierten Umfeld", von Pornos, die schon zum Mittagessen in ihrer Adoptivfamilie liefen.

"Nicht wegschauen"

Die Kamera zoomt immer wieder auf Brockhöfer und Becher und der Zuschauer fragt sich unwillkürlich: Darf man das? Das Leid der beiden Betroffenen so in Großformat senden?

Die Antwort geben die Betroffenen selbst: Man darf nicht nur, man muss. Denn allzu oft sind es nicht die Opfer, die nicht gesehen werden wollen - sondern die Gesellschaft ist es, die sie nicht sehen will. "Nicht wegschauen", ist Isabell Brockhöfers Appell - genau wie der von Björn Becher.

Ob nicht zumindestens die Schläge für alle sichtbar gewesen seien, will Maischberger von ihm wissen. "Herr S. war schlau", ist Bechers Antwort. Herr S. - so nennt er heute den Mann, der ihm ein Vater hätte sein sollen und der stattdessen seine Kindheit zerstört hat. Er ist wütend - vor allem auf das Jugendamt, das trotz zahlreicher Hinweise nicht eingeschritten sei. "Da muss ich mir vom Jugendamt sagen lassen, ich bin lästiger wie 'ne Scheißhausfliege!", bricht es aus ihm heraus.

Verhärtete Fronten

"Ein missbrauchtes Kind muss sich im Schnitt achtmal an einen Erwachsenen wenden, bevor es gehört wird", erklärt auch Stephanie zu Guttenberg, Präsidentin der deutschen Sektion von "Innocence in Danger". Die Erfahrung Bechers sei beileibe kein Einzelfall. Guttenberg, die häufig verdächtigt wird, ihr Engagement gegen sexuellen Missbrauch für PR in eigener Sache zu nutzen, findet an diesem Abend oft die richtigen Worte: "Für die Betroffenen ist es unglaublich wichtig, dass Herr Becher hier sitzt und sich nicht aufgegeben hat", sagt sie zum Beispiel.

Und noch eine sitzt dort, die schon einen langen Kampf kämpft: Johanna Treimer, deren Sohn als Ministrant vom Dorfpfarrer missbraucht wurde. Die Eltern hatten den Priester beim Bistum Regensburg angezeigt. Dieser wurde versetzt - und missbrauchte weitere Kinder. Bis heute haben die Treimers keine Entschuldigung erhalten, von einer Entschädigung ganz zu schweigen. "Da sind die Fronten verhärtet", sagt die Mutter und versucht ein halbes Lächeln. "Ich habe oft das Gefühl: Ich bin jetzt der Bösewicht."

Der einzige richtige Streit des Abends

Die undankbarste Rolle des Abends fällt dem Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke zu: "Ich bin zutiefst beschämt über jede einzelne Missbrauchsgeschichte", sagt er. Dennoch ist er überzeugt, dass sich in seiner Kirche bereits vieles verbessert hat: "Es ist schmerzlich, aber es hat zu einer Veränderung der Wahrnehmung geführt." Zum "Einzelfall" von Familie Treimer will er sich nicht äußern, spricht stattdessen viel von den neuen Richtlinien, den Koordinierungsstellen. Da kann sich Björn Becher ein zynisches Lachen nicht verkneifen.

"Leitlinien gab es auch 2002 schon", widerspricht auch Johanna Treimer, "aber warum muss man immer noch kämpfen, um Gelder zu bekommen?" Es kommt beinahe zum einzigen richtigen Streit des Abends, als der Weihbischof antwortet: "Wenn jemand sagt, dass die Kirche die Fälle nicht entschieden aufarbeitet - der sagt nicht die Wahrheit."

Die eigentliche Kernfrage der Runde wird dabei nur sachte umkreist: "Wie machtlos sind wir eigentlich?" Dennoch schwingt die Antwort zwischen den Zeilen mit: sehr, sehr machtlos.

Denn was man konkret tun könnte, um die Situation für Missbrauchsopfer zu verbessern, das weiß keiner so genau. Präventivprogramme, bessere Ausbildung von Jugendamtsmitarbeitern, Psychologen und Lehrern werden genannt. Doch Stephanie zu Guttenberg erinnert völlig zu Recht daran, dass diese Forderungen schon seit vielen Jahren von diversen Vereinen erhoben werden - bisher sei aber nichts passiert.

Christine Bergmann sagt: "Da haben alle noch ein Stück Hausaufgaben zu machen." Auch die Politik. Da wirkt die Ankündigung der auf Maischbergers Talkrunde folgenden Reportage fast wie ein unheilvolles Omen: "Von den Eltern missbraucht, vom Staat ignoriert".

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