TV-Kritik: Das Supertalent:Die Freakshow des Dieter Bohlen

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Ein Kandidat, der sich das Show-Logo an die Stirn tackert? Bruce Darnell meint "totally krank" - doch das Bohlensche Grinsen sitzt bombenfest. Bis ein Möchtegern-Dieter die "Supertalent"-Bühne betritt.

Rupert Sommer

Er zerschlägt eine Bierdose vor der eigenen Stirn. Er schnupft ein Kondom durch seine Nase und bläst es aus dem Mund heraus wieder auf. Er sticht mit einer Gabel in Richtung Auge und lässt weiße Glibbermasse durch die Finger laufen. "Totally krank", urteilt Supertalent-Juror Bruce.

"Drei Mal Yes": Selbst einen Kandidaten, der die Geschmacksfragen-Schmerzgrenze eindeutig überschreitet, winkt Supertalent-Juror Dieter Bohlen gut gelaunt in die nächste Runde. (Foto: dpa)

"Just kidding", alles nur ein Scherz, sagt Richard Sean Wilson dazu. Doch als der Extrementertainer sich dann tatsächlich mit einer Heftklammer-Pistole ein DIN-A4-Foto mit dem Supertalent-Logo auf die Stirn tackert, da wird es dem zarten Herrn Darnell doch etwas zu wild.

Während sich die Bildregie aufgekratzt am Schwarz-Weiß-Superzeitlupenmodus berauscht, steht Bruce auf und macht Anstalten, den Saal zu verlassen. Auch Kollegin Sylvie van der Vaart ist das Entsetzen ins Gesicht geschrieben - jedenfalls wenn man den penetrant wiederholten Einzelbild-Kameraeinstellungen glauben darf.

"Du bist der erste Kandidat, der mich übel gemacht hat", blafft sie den wild entschlossenen, über und über tätowierten Kalifornier an. Und dann die Sensation: Die drei Juroren werfen alle Bedenken über die eigene Geschmacksfragen-Schmerzgrenze, die erwartbare Aufregung der Jugendschützer und den spürbaren Widerwillen im Publikum über Bord - und winken Richard Sean Wilson einstimmig durch.

"Drei Mal Yes", signalisiert Dieter Bohlen. Und jetzt schon ist er gespannt, was der Mann mit den furchterregenden Gold-Schneidezähnen bei seinem nächsten Supertalent-Auftritt plant.

"Die größte Show im deutschen Fernsehen kann es noch verrückter", kündigt die Eigen-Prahlerei zum Schluss bedrohlich an. "Liebe Kinder, nicht nachmachen! Das ist ein ausgebildeter Psychopath."

Der Warnhinweis von Moderator Daniel Hartwich, der mit Marco Schreyl versucht, ein wenig durch den knallbunten Abend zu führen, ist kurz vor dem Finale mit dem furchtlosen Sean mehr als berechtigt. Auch wenn letztlich doch nicht viel mehr zu sehen ist, als vom ersten Vorankündigungs-Trailer an festand.

Das Kleiderbügel-Durchstechen der Nase war bereits mehrfach gezeigt worden. Und doch fügt sich selbst ein "Freakshow Artist" wie der Tacker-Pyschopath trotz allem brav ins übliche Supertalent-Kindchenschema.

Zwar bleibt in seiner kurzen Vorstellung der sonst so werbewirksame Hinweis auf Hartz IV- oder Herzinfarkt-Schicksalsschläge außen vor. Doch auch mit dem Mann aus Long Beach springen die Tränendrüsen-Masseure der Weltgerechtigkeit nicht ganz freundlich um: Wenn man seiner traurigen Mär Glauben schenken darf, dann hatten Zollbeamten Wilsons vermutlich recht martialische Show-Ausstattung konfisziert. Und der Koffer mit seinen Requisiten hing angeblich am Flughafen in Amsterdam fest.

Doch wer Talent hat, weiß sich eben zu helfen: Kurzentschlossen organisiert er hinter der Bühne neues Folterwerkzeug. Und deswegen muss er den teuflischen Tacker nach der Show auch wieder den Technikern zurückgeben. So weit, so bewegend.

Bohlen jedenfalls zeigt sich berührt. Die Sendung, die ihre Jury - sowie das Publikum im Saal und in den Wohnzimmern - in ein Wechselbad der Emotionen taucht, ist somit doch noch zu einem trotzt aller Drastik versöhnlichen Ende gekommen.

Zuvor hatte sich vor allem Bohlen zwei Mal sehr ärgern müssen - einmal, als er zwei chinesisch-stämmige Entertainerinnen eigenhändig des Schummelns überführte. Zum anderen, als sich der Plastikpop-Produzent in Gestalt von Möchtegern-Musikmillionär Marc Sigal mit einer Art Alter Ego konfrontiert sah.

Die 22-jährige Akrobatin Jiaojiao Zhao, die auf mehreren Bambusstecken Porzellanteller rotieren lässt, während ihre Mutter süßliche Fernost-Schnulzen singt, hatte Bohlen noch vor ihrem Auftritt verhört. Er ließ sich versichern, dass das Wirbelgeschirr nicht regelwidrig fixiert war. Nach der Nummer sieht er sich arglistig getäuscht und in seinem Anfangsverdacht bestätigt. "Die waren ja doch festgeklebt", schimpft er.

Um das ganz deutlich zu machen, springt er selbst auf die Bühne, lässt die Klebe-Teller tanzen und säuselt dazu den alten Modern-Talking-Welterfolg "Cheri Cheri Lady". Offenbar eine Art Selbsttherapie.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Juror Bohlen auf die Konfrontation mit einem Möchtegern-Dieter reagiert.

Bei der Konfrontation mit Marc Sigal, der mit seinem sperrigen Schlager "Warum ruftst Du mich nicht an, ich denke viel daran" bei Publikum und einer genervten Jury durchfällt, sitzt der Selbstbegegnungsschrecken für Bohlen tiefer. "Ich bin so etwas Ähnliches wie der Dieter", stellt sich der 49-Jährige, der eigentlich Marc Otto Heide heißt, keck vor. Dabei sieht er ein wenig aus wie Klaus Kinski und hat weite Teile seines bisherigen Lebens mit Party und "Drogen aller Art", so Sigal, verbracht.

Naheliegend, dass Dieter den ihm aufgedrängten Vergleich, den viele Zuschauer allerdings vermutlich ebenfalls konstruiert haben dürften, so nicht gelten lassen will. "Der Unterschied zwischen uns sind circa 200 Millionen Schallplatten", weist er den Herausforderer, der sich selbst als besserer Komponist bezeichnet, in die Schranken.

An ein Weiterkommen ist angesichts eines solchen Bühneneinstands natürlich nicht zu denken. Alles andere hätte auch den Anspruch der Aschenputtel-Sendung untergraben: Wie Marc Sigal durchblicken lässt, konnte er sich seine bisherigen Ausschweifungen dank einer stattlichen Erbschaft leisten. Nur jetzt sind die 500.000 Euro von einst eben aufgebraucht. "Pleite bin ich schon länger", musste er eingestehen.

Bei Das Supertalent lockt als Gewinnsumme nur ein Fünftel dieser Finanzspritze - und wie kurz die ohne Bohlen-Disziplin vorhalten dürfte, kann man sich nach dem Auftritt von Sigal selbst ausrechnen.

Trotzdem gibt es in der kurzweiligen Vorsing- und Vorturn-Show diesmal auch wirkliche Überraschungen: Muskelmann Robert Maaser, der seinen gestählten Körper in einem eigenwilligen Zebrakostüm versteckt, ist eine besonders eindrucksvolle. Der 20-jährige Sportstudent kringelt sich in einer poetischen Choreographie mit einem übermannsgroßen weißen Reifen ("quasi ein Rhönrad für Arme", so Maaser) über die Bühne - und versetzt die Jury in Verzückung.

Mit einem einzigen sehr kalkuliertem Effekt - einem für die kalte Jahreszeit wenigstens vorne herum deutlich zu kurz geschnittenen weißen Abendkleid - zieht dagegen die Züricher Cellistin Liz Schneider gierige Bohlen-Blicke auf sich. Der Meister des Schlüpfrigen lässt es sich sogar nicht nehmen, eigenhändig am Rock zu zupfen, um allzu offenherzige Einblicke zu verhindern. Dass Schneiders Gefiedel doch dürftig klingt, stört wenig.

Sogar Sylvie van der Vaart ist des Lobes voll. "Die Farbe von Deinem Cello stimmt", sagt sie und streicht noch einmal die eher optische Raffinesse des Ton-in-Ton-Auftritts heraus.

Einziger Wermutstropfen: Ausgerechnet der Mann, der diesmal eigentlich den Supertalent-Sympathiepreis der Herzen verdient gehabt hätte, tritt gar nicht als Teilnehmer, sondern nur als Helfer an: Tobias Kramer, ein von Geburt an taubstummer Tänzer, der die Magie der Musik nur über seinen Körper aufnehmen kann, kommt mit seinem furiosen Pop-Dance-Medley völlig verdient eine Runde weiter.

Besonders bemerkenswert macht seinen Auftritt, für den er von Bohlen das allgemeinverständliche Daumen-hoch-Zeichen bekommt, allerdings sein begleitender Gebärdendolmetscher. Der vermittelt nämlich nicht nur zwischen Tobias Kramer und der Jury, sondern sorgt ungeplant für den humoristischen Höhepunkt des Abends: Er muss nämlich genau das übersetzen, was sich wirklich nicht in Worte, geschweige denn in Gebärden fassen lässt: das absolut charmante, absolut dahingeblubberte Darnellisch.

Völlig begeistert vom taubstummen Tänzer fehlen dem tränennahen Bruce zunächst einmal die Worte, bevor wieder einmal Satzbau und Semantik heillos durcheinander geraten. Bohlen versucht zu sekundieren und weist seinen Jurykollegen darauf hin, dass man Musik zwar "spüren", aber nicht "spülen" kann.

Endlich ringt sich Bruce doch noch zum erlösenden "Echt geil" durch. Und der Gebärdendolmetscher übersetzt tapfer weiter. Auch ohne Bierdose, Kondom oder Klammer-Krampe ist dies eine supertalentierte Leistung.

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