TV-Kritik: "Beckmann":Sechs Wirklichkeiten zur sexuellen Gewalt

Wenn ein Bischof die Opferzahlen nicht kennt: Beobachtungen einer Talkrunde bei Beckmann in der ARD.

Matthias Drobinski

Schon wieder kommt Missbrauch im Fernsehen, in Form einer Rederunde, bis kurz vor Mitternacht bei Beckmann. Wobei sich irgendwann alle einig sind, dass dies ein schreckliches Wort sei und jeder Teilnehmer gelobt, von nun an "sexuelle Gewalt" zu sagen.

Keine schlechte Idee, auf solche Worte zu achten, wenn viel geredet wird.

Man wird sehen, ob sie das dann auch schaffen: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die Justizministerin, und Stephan Ackermann, der Bischof von Trier und, nun ja, Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz. Johannes Heibel, seit Jahren unermüdlicher und unerbittlicher Kämpfer für die Sache der Opfer; Notker Wolf, der Abtprimas der Benediktiner; Margarita Kaufmann, die Leiterin der Odenwaldschule; Bodo Kirchhoff, der Schriftsteller, der selber als Zwölfjähriger sexuelle Gewalt erlitt.

Den Fragen des Moderators Reinhold Beckmann geht die Schärfe ab, da hilft es auch nicht, dass er ernst in die Kamera guckt, und irgendwann dem Schriftsteller Kirchhoff entgegenschleudert: "Hier weichen Sie vom Thema ab!" Und der Justizministerin empfiehlt, auch den Opfer-Vertreter Heigel an den runden Tisch zum Thema Missbrauch zu setzen.

Beckmann nimmt niemanden in die Mangel, obwohl es in der Runde einige Kandidaten dafür gegeben hätte, die beiden Kirchenleute und die Justizministerin zum Beispiel. Dadurch sinkt das Tempo der Debatte. Es steigt der Anteil des tausendmal Gesagten. Aber es bleibt auch der lärmende Schlagabtausch aus, der neulich bei Anne Will entstand, als sich der neue Essener Bischof Franz Josef Overbeck und der Schwulen-Aktivist Rosa von Praunheim zum gleichen Thema dummes Zeug an den Kopf warfen.

Es passiert etwas anderes bei Beckmann in der ARD, Ungeplantes: Die Menschen, die da unangefragt durch den Moderator reden, offenbaren sich selbst in eigentümlicher Weise.

Bischof Ackermann, wie er aufgeregt und mit vor ehrlichem Eifer roten Backen erzählt, was die katholische Kirche nun alles tut und tun will - und dann keine bundesweiten Opferzahlen nennen kann, einen Fall nur unvollständig kennt, der schon groß im Spiegel stand, und so zum Bespiel dafür wird, wie anfanghaft immer noch der Prozess der Aufklärung, Reinigung und Umkehr ist, von dem die Bischöfe reden.

Unterdrückte Tränen

Notker Wolf, der oberste Benediktiner, der erst zwei Drittel der Sendung schweigt, dann sagt, dass er von der Gewalt im Kloster Ettal im März erfahren habe, zehn Tage, nachdem die ersten Geschichten in der Zeitung standen, daraufhin erklärt, dass Sexualität schon eine gefährliche Macht sei und er deshalb rate, ein Geistlicher und ein Kind sollten sich vielleicht nicht aufs gleiche Sofa setzen.

Es offenbart sich die Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger im Bemühen, staatstragend zu sein und ja nicht noch einmal den Bischöfen auf die Füße zu treten, wie sie es im Februar nur mäßig elegant getan hat. Es zeigt sich Johannes Heibels bittere Wirklichkeit des ewig störenden Opfervertreters, den sie nicht an den runden Tisch geladen haben, weil sie ihm zu wenig Politikfähigkeit zutrauen.

Sechs Menschen in ihren sechs Wirklichkeiten

In den unterdrückten Tränen der Odenwaldschul-Leiterin wird der Abgrund sichtbar, der sich für sie aufgetan hat.

Und in der mäandernden, weder richtig ausgeführten noch von den anderen verstandenen These Kirchhoffs vom Ineinander von Begehren und Gewalt, von Opfer und Täter geht es um den lebenslangen Versuch des Mannes, zu begreifen, was ihm geschah.

Sechs Menschen in ihren sechs Wirklichkeiten, die sechs Mal verschieden wahrnehmen, was es bedeutet, wenn Erwachsene sich Kinder gefügig machen, Grenzen überschreiten, sie im Innersten verletzen, dort, wo die Narben bleiben.

Das war wohl der wahre Sinn der Sendung: zu zeigen, wie lange es noch dauern wird, bis diese Gewalt wirklich im Bewusstsein der Gesellschaft angekommen sein wird.

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