TV-Kritik: Anne Will:Geschichtszeichen der Nacht

Alles zurück auf Meta: Bei Anne Will tastete man sich an das "System Islam" heran, weil es Herr Sarrazin wohl so wollte. Wo kam man hin? Keinen Meter weiter.

Johan Schloemann

"Was für eine Woche!", rief Anne Will zu Beginn aus. Sie meinte natürlich die große Sarrazinade seit Erscheinen des Buches Deutschland schafft sich ab vor einer Woche, und doch hielt sie der Stoßseufzer keineswegs davon ab, am Ende derselben auch noch einmal eifrig zu diesem Thema in den Ring zu steigen.

Anne Will bekommt neuen Sendeplatz - doch welchen?

"Sarrazin weg - Integrationsprobleme gelöst?" fragt Anne Will am Sonntagabend ihre Gäste Katrin Göring-Eckardt, Klaus Wowereit und Wolfgang Bosbach.

(Foto: dpa)

Über den fleißigen deutschen Bürger, der sich nicht mit der Hartz-IV-Existenz abfinden will, schreibt Thilo Sarrazin in seinem Bestseller Folgendes: "Nach Dienstschluss wird er es sein, der sich wohler fühlt und dem das Feierabendbier besser schmeckt." Da wollte Anne Will nicht untätig erscheinen.

Allerdings schien der Runde, die sie zusammengerufen hatte, zunächst ein gewisser Schrecken über die Krawalldebatte der vergangenen Tage in den Knochen zu stecken. Trotz streitbarer Figuren wie der Islamkritikerin Necla Kelek und dem wie immer gutgebräunten CDU-Hardliner Wolfgang Bosbach war der Ton ziemlich lange auffallend vorsichtig.

Das lag auch daran, dass Anne Will ständig auf der Personalie Sarrazin und auf den politischen Verfahrensfragen bei SPD und Bundesbank herumhackte, obwohl eigentlich etwas anderes versprochen war - nämlich ein Gespräch über konkrete Probleme der Integration von Zuwanderern, ein Gespräch, das manche der Anwesenden auch wirklich führen wollten.

Notwendige oder hysterische Debatte?

Dieses Durcheinander begünstigte in der Sendung immer wieder das beliebte Spiel der Meta-Diskussion, also die Debatte darüber, ob die Debatte gerade gut ist. Die Beschäftigung mit Sarrazin "schadet der Integrationsdebatte", sagte Kiez-Experte und Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit. Die Sarrazin-Aufregung sei im Gegenteil "wunderbar" für die Integrationsdebatte, sagte Necla Kelek.

Die vergangenen Tage seien "eine hysterische Debatte gewesen", sagte Wolfgang Bosbach, Vorsitzender des Innenausschusses des Bundestages, sich "den Menschen da draußen" näher fühlend. Wogegen die wirklich kluge Katrin Göring-Eckardt, Vizepräsidentin des Bundestages, von den Grünen sagte: "Wir sind nicht hysterisch, Herr Sarrazin ist hysterisch."

In der Sache selbst wollte nur Necla Kelek "das System Islam" für die Unterschichtsprobleme alleinverantwortlich machen, eigentlich waren sich einfach alle einig, dass beide Seiten, Deutsche und Ausländer, sich irgendwie mehr anstrengen sollten. Anne Will verwechselte eine Zeitlang beharrlich die jugendlichen Intensivstraftäter in Neukölln mit der friedlichen Mehrheit der Einwanderer, die Sprach- und Bildungsdefizite haben, aber deswegen nicht gleich alle kriminell werden.

Dieser gedankenlosen Scharfmacherei folgte nach dem üblichen redaktionellen Mischungsprinzip ein sanftes Lämmchen, eine Vorzeige-Muslimin auf dem Vorzeigesofa. In recht guter Form war übrigens an diesem Abend Klaus Wowereit, dem man nicht nur die Kritik an "kollektiver Verunglimpfung", sondern auch seine Bauchschmerzen beim Sarrazin-Rausschmiss abnahm - Wowereit machte plausibel, dass ebenso wie dieser Rausschmiss auch die Nichtausgrenzung Sarrazins der SPD schaden kann.

Nach einigem eher sanftem, unpräzisem Geplätscher, bei dem niemand außer Necla Kelek den eugenischen Gottseibeiuns ohne Einschränkung verteidigen wollte, nach solchem Geplätscher also war es kurz vor Schluss an Norbert Bolz, doch noch eine Dramatisierung zu bewirken.

Der Berliner Podienmeister und Medienphilosoph Bolz, der bei Anne Will mit der originellen Berufsbezeichnung "Volksparteienkritiker" eingeführt wurde, startete nämlich den Großangriff auf die Political Correctness. "Die Politiker" seien ihrerseits "eine Parallelgesellschaft", die liberale Hegemonie wolle einfach nicht wahrhaben, dass das Volk begierig nach Klartext ohne Tabus lechze, stattdessen gebe es jetzt aber sogar "neue Jakobiner auch in den Feuilletons".

Und dann kam das Wort des Abends: Thilo Sarrazins Buch und seine Wirkung, sagte Norbert Bolz, seien für Deutschland "ein Geschichtszeichen". Norbert Bolz' Augen glühten, als sei er bereit, umgehend an dem ganzen großen Gutmenschentum den Ehrenmord zu verüben. Da ging ein fürchterliches Brausen durch das Fernsehstudio, das Menetekel stand an der Wand, und es war allen, als habe der Prophet Daniel persönlich gesprochen.

Und damit war die Talkshow wieder, wie es die ganze Debatte gerne tut, beim Meta-Thema angelangt. Denn was Norbert Bolz versuchte auszudrücken, das war die Professorenvariante des "Endlich sagt's mal einer" - die abwegige Behauptung, Tabuisiertes werde nun zum allerersten Mal überhaupt benannt, und Figuren wie Sarrazin werde hierzulande die Meinungsfreiheit verweigert. Als Norbert Bolz vom "Geschichtszeichen" sprach, da wurde es selbst Wolfgang Bosbach zu philosophisch, weswegen er zum Schluss lieber "endlich spürbare Sanktionen" forderte.

Hat die Anne-Will-Sendung am Ende der Sarrazin-Woche die Integrationsdebatte weitergebracht? Keinen Meter. Wurde über Thilo Sarrazins Themen und Thesen, unter Abzug der eugenischen und antimuslimischen Abschnitte, ernsthaft debattiert? Zu keiner Gelegenheit. Gibt es also von dieser Talkshow nicht irgendetwas Hübsches zu berichten? Oh doch.

Ganz großartig ist es, wenn Leute wie Wolfgang Bosbach mehr Bildungsanstrengung von Migranten fordern und dann ein Buch von 400 Seiten als einen "Wälzer" bezeichnen, durch den man sich beim besten Willen in einer Woche noch nicht habe durchkämpfen können. Aber vielleicht ist die Bosbach'sche Leseschwäche ja auch genetisch bedingt?

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