TV-Konsum der Deutschen:"Serien können Tabus brechen"

Die Deutschen lieben Fernsehen - und sie lieben Serien. Eine Studie zeigt: Immer mehr Dinge werden nebenher erledigt, während der Fernseher läuft. Das ist nicht nur Social Media geschuldet, sondern auch dem Programm. Dabei wäre das Rezept laut Medienwissenschaftlerin Irmela Schneider einfach: Anspruchsvolleres senden, dann auch gerne in Serie.

Katharina Mittelstaedt

Die Studie, die am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde, ergab wenig überraschend: 98 Prozent der Bundesbürger sehen regelmäßig fern. Im "Freizeit-Monitor 2012" landet der TV-Konsum in allen Lebensphasen auf dem ersten Platz. Seit den 1980er Jahren führen Fernsehen, Radio, Zeitung und Telefon die Lieblingsfreizeitbeschäftigungen der Deutschen in den Umfragen an. Neu ist allerdings, dass das Fernsehen als allerliebster Zeitvertreib zunehmend mit anderen Dingen verknüpft wird, als da wären: Bügeln, Essen, im Internet surfen und sich per Facebook, Twitter und weiteren Social-Media-Kanälen mit Freunden zu unterhalten - unter anderem über das TV-Programm. Über das sich die Deutschen zugleich zunehmend beschweren. Ob das wohl am Inhalt liegt? Und daran, dass sich die Formate im TV untereinander und senderübergreifend immer weiter ähneln? Kapitulieren die Fernsehmacher vor der Quote, mit immer neuen und immer weniger authentischen künstlichen Formen des billigen Anreizes? Und was könnte aus diesem Teufelskreis heraushelfen? Ein Gespräch mit Irmela Schneider, Professorin für Medienwissenschaften an der Universität Köln.

serien im tv - Lindenstraße

Die langjährige Darstellerin Marie-Luise Marjan alias Helga Beimer aus der "Lindenstraße": Zu belehrend, aber nicht so abstrus wie viele Nachfolge-Formate.

(Foto: OBS/WDR)

Süddeutsche.de: Das Fernsehformat "TV-Serie" gibt es schon fast 80 Jahre lang, jetzt will "GZSZ" mehr Reality-Elemente in die Sendung einbauen. Etwa, dass eine neue Schauspielerin sich selbst spielen wird. Hat das Modell Soap ausgedient? Oder sind das die neuen Formate, die den Zuschauer der Zukunft anziehen?

Schneider: Derzeit gibt es eine starke Fokussierung auf Realityformate und Scripted-Reality, aber dass ein so etabliertes Genre wie die Soap einfach verschwindet, wäre medienhistorisch eine große Überraschung. In aller Regel durchlaufen Formate zwar Veränderungen, es kommt zu Hybridbildungen wie etwa zur Soap-Opera mit Kriminalelementen. Aber die Soap als Genre zeichnet sich in die neuen Formen ein und geht nicht einfach verloren. Ermüdungserscheinungen werden sich über kurz oder lang, wie bei den meisten Moden, auch bei Reality-Formaten einstellen.

Süddeutsche.de: Als qualitativ hochwertige Serien gelten hierzulande schon seit Jahren eher US-Produktionen wie "The Wire", "Sopranos" oder auch "Mad Men". Können die Deutschen es nicht besser?

Schneider: Die Produzenten haben, insbesondere wenn es sich um Serien im Rahmen des "Quality TV" handelt, die Möglichkeit, Serien mit einem höheren Aufwand zu produzieren und investieren stärker in die Buchentwicklung, in die Ausstattung, entwickeln neue Erzählstrukturen, neue Personenkonstellationen und neue Themen. Sie arbeiten dann mit besseren Rahmenbedingungen als deutsche Produktionsfirmen.

Süddeutsche.de: Wie stark ist der amerikanische Einfluss auf deutsche Produktionen?

Schneider: Beliebte Serien wie "Traumschiff" oder "Schwarzwaldklinik" orientieren sich an den ersten Primetime-Soaps, also an "Dallas" oder dem "Denver-Clan". Wenn die Amerikaner gute Ideen haben, bin ich dafür, sich an dieser Qualität auszurichten, sie dann aber in die eigene Kultur einzubringen. Die Amerikaner sind wesentlich sorgfältiger, was Dialogstruktur und filmische Gestaltung betrifft. Da dürfen wir uns ein Beispiel nehmen.

Süddeutsche.de: Serien werden nicht mehr nur im Fernsehen verfolgt, sondern vor allem auch auf DVD. Verändert das die Machart?

Irmela Schneider: Diese Entwicklung ist für die Seriengestaltung und -rezeption entscheidend. Der Zuschauer muss sich nicht in ein Zeitraster einklinken, sondern kann Serien nach eigener Organisation und mehrfach sehen. Dabei kann er Anspielungen und komplexe Zusammenhänge entdecken und verstehen, wie es im Rahmen einer einfachen Fernsehrezeption nicht möglich wäre.

Süddeutsche.de: Serien werden also anspruchsvoller?

Schneider: Die Möglichkeit, Serien auf DVD zu sehen, hat die Tendenz zur komplexeren Erzählung maßgeblich vorangetrieben. Es gibt mehrere Handlungsstränge und Referenzen zu Szenen aus der Film- oder Seriengeschichte. Doch der Zuschauer muss eine komplexe Geschichte nicht in ihrer Komplexität erkennen, sondern kann auch einfach davor sitzen und schauen, was sich oberflächlich tut.

"Mehr auf starke Erzählungen setzen"

Süddeutsche.de: Ist die Fernsehserie dem Tod geweiht und wird sie gerade von der DVD-Serie abgelöst?

Amerikanische Fernsehserien

Spielt mit Tabus, die in den 60er Jahren noch galten, für viele heutige Fernsehzuschauer kaum noch denkbar sind: Die US-Serie "Mad Men".

(Foto: dapd)

Schneider: Serien wie beispielsweise "Die Sopranos" brauchen immer noch die Ausstrahlung im Fernsehen, um bekannt zu werden, aber sie werden dann in einem zweiten Durchgang als DVD rezipiert.

Süddeutsche.de: Wie wird diese Entwicklung weitergehen?

Schneider: Wenn ich eine qualitativ sehr hochwertige Serie wie "The Wire" nehme und hochrechne, was ein Trend sein könnte, dann wäre das eine höhere Sensibilität für soziale Probleme. Drogenabhängigkeit, immer noch vorhandene Vorbehalte gegen Schwarze, in Deutschland die Situation mit Migranten - diese Themen gehören dringend auf die Serien-Agenda. In Zukunft sollte weniger auf eskapistische Serien als auf starke Erzählungen gesetzt werden, die die Probleme, Konflikte und Ratlosigkeit aufgreifen, die viele Menschen in ihrem Alltag erfahren.

Süddeutsche.de: Eine Serie, die seit langem soziale Probleme thematisiert, ist die "Lindenstraße". Ein Vorreiter für künftige Produktionen?

Schneider: Es werden die Serien der Zukunft bestimmt weniger belehrend sein als die "Lindenstraße". Soziale Probleme können aber auch so dargestellt werden, dass der Zuschauer einfach neugierig wird, wie die Personen in der Serie damit umgehen.

Süddeutsche.de: Gesellschaftliche Fragen zu thematisieren, also qualitativ Hochwertiges zu produzieren, ist teuer. Ist das in Deutschland überhaupt möglich?

Schneider: Serien wie "Die Sopranos" wären hier ein Kostenproblem. Qualität ergibt sich natürlich daraus, dass genügend Zeit in die Buchentwicklung gesteckt wurde und ausreichend Drehtage eingeplant sind. Das klappt nicht, wenn alles mit den knappsten Mitteln möglichst schnell produziert werden muss.

Süddeutsche.de: Ist der deutsche Markt einfach zu klein?

Schneider: Das würde ich nicht sagen. Experimente und etwas größeres Engagement könnten sich zumindest die öffentlich-rechtlichen Anstalten erlauben.

Süddeutsche.de: Mit Formaten wie "Verbotene Liebe" und "Marienhof" ist es da nicht getan?

Schneider: Da könnte man mehr investieren.

Süddeutsche.de: Welche kulturhistorische Bedeutung haben Serien für eine Gesellschaft?

Schneider: Serien können gesellschaftliche Tabus brechen, indem diese in der Serie verarbeitet werden. Ich denke an Themen wie Homosexualität. Da haben Serien eine integrative Funktion, sind Teil der Formierung von Weltbildern, lösen Kontroversen aus. Zweitens gehören Serien zu dem Erfahrungsbestand, den man bei anderen voraussetzen kann. Mit Stichworten wie "Lindenstraße" oder "Columbo" wird ein kollektiver Erfahrungsraum aufgerufen. Über kurz oder lang wird man in der Geschichtsschreibung nicht an den Serien vorbeikommen. Denn auch in fiktionalen Erzählungen reflektiert sich die Zeitgeschichte.

Süddeutsche.de: Welche deutschen Produktionen halten Sie für wertvoll?

Schneider: Die "Bella Block"-Reihe ist eine gute Produktion. Und was ich sehr interessant fand, war die Zeit der deutsch-dänischen und deutsch-schwedischen Koproduktionen, zum Beispiel "Kommissar Beck" und andere Krimiserien. Die Skandinavier sind führend auf dem Sektor des Kriminalgenres.

Süddeutsche.de: Was fehlt, sind also intensivere internationale Kooperationen?

Scheider: Vor allem auf europäischem Sektor. Wenn sich zwei kleinere Länder zusammentun, ist es vielleicht auch ökonomisch attraktiver, Qualität zu produzieren.

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