TV für Jugendliche:Wunderbare Jahre

Teenager wurden als Zielgruppe im Fernsehen lange Zeit nicht sehr ernst genommen. Doch plötzlich gibt es unzählige anspruchsvolle Serien für sie.

Von Kathrin Hollmer

Die Stimme aus dem Jenseits kommt von einem Medium aus der Vergangenheit: einer Musikkassette. "Hey. Hier ist Hannah, Hannah Baker". Der Schüler Clay Jensen muss erst einen Walkman auftreiben, um die Kassetten abzuspielen, die vor seiner Haustür lagen. Das wäre noch nicht so kompliziert - doch Hannah Baker ist tot. Sie hat sich kurz zuvor umgebracht. Auf 13 Kassettenseiten lebt sie weiter und richtet sich an die 13 Menschen, die mit ihrem Suizid zu tun haben.

Der Roman "13 Reasons Why" ("Tote Mädchen lügen nicht") von Jay Asher stand nach seiner Veröffentlichung 2007 länger als ein Jahr auf der Bestsellerliste der New York Times. Zehn Jahre später hat Netflix ihn in einer Serie verfilmt, mit Oscar-Preisträger Tom McCarthy (Spotlight) als Regisseur und Schauspielerin und Sängerin Selena Gomez als Produzentin.

Tote Mädchen lügen nicht ist eine von vielen Teenager-Filmen und -Serien, die Netflix zuletzt produziert hat. Das fällt auch deshalb auf, weil lange Zeit nur Kinder ihre festen TV-Nischen hatten: eigene Sender, eigene Slots im Programm, eigene Rubriken auf Amazon Video, Sky und Maxdome und Netflix. Klar, Teenie-Serien gab es natürlich immer, Beverly Hills 90210 zum Beispiel lief zehn Jahre lang, Dawson's Creek fünf; feste Sendeplätze oder Sender, oder einfach nur anspruchsvollere Unterhaltung für diese Altersgruppe gab es aber kaum - eine Lücke, die derzeit nicht nur von Netflix geschlossen werden will.

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Warum wollte Hannah (Katherine Langford) sterben? Ihr Schulkamerad Clay (Dylan Minnette) findet vor seiner Haustüre sieben Musikkassetten, die genau diese Frage beantworten sollen.

(Foto: Beth Dubber/Netflix)

In Deutschland will das Jugendangebot Funk von ARD und ZDF seit vergangenem Oktober 14- bis 29-Jährige erreichen und bündelt auf Youtube, Facebook und in einer App Nachrichten, Talk-Formate zu Themen wie Sex und Integration, Satire-Shows und Reportagen. Im klassischen Fernsehen findet sich Funk nicht wieder - auch die deutsche Medienpolitik vermutet den Teenager heute eher im Netz als vor der Glotze. Tatsächlich sank einer aktuellen Studie zufolge bei den 14- bis 19-Jährigen die TV-Nutzung von 2000 bis 2015 von 162 auf 129 Minuten pro Tag.

Die neue Fernsehwelt zwingt alle, sich schon früh um ihr Publikum von morgen zu bemühen

Fiktion macht bei Funk nur einen Bruchteil des Angebots aus, und die meisten Serien, teilweise von BBC produziert und auch im Originalton verfügbar, sind alterslos, wie die Mockumentary Hoff the Record mit David Hasselhoff oder der Science-Fiction-Klassiker Doctor Who, die auch auf anderen Streaming-Portalen verfügbar sind. Und doch sind interessante Ausnahmen dabei, etwa die deutsche Mystery-Serie Wishlist, in der eine App alle Wünsche der 17-jährigen Hauptfigur Mira erfüllt - natürlich nicht ohne Gegenleistungen, oder die deutsche Serie Alles Liebe, Annette, die die Biografie der Schriftstellerin Annette von Droste-Hülshoff in die Moderne holt, samt tagebuchartigem Video-Blog.

Bei Netflix gibt es zwar auch noch keine eigene Rubrik für Teenager, doch der Streaming-Dienst liefert immer mehr eigenproduzierte Serien und Filme für junge Menschen, die sie und ihre Probleme auch tatsächlich ernst nehmen. Seit Januar erscheint wöchentlich eine neue Folge der Highschool-Serie Riverdale, die auf den Charakteren der Archie-Comicreihe basiert und Intrigen und Machtspiele in der Schule und in der Twin-Peaks-artigen Kleinstadt Riverdale beleuchtet. Außerdem kündigte Netflix die Serie Atypical über einen autistischen 18-Jährigen und den Film Death Note an, eine Manga-Verfilmung über einen Highschool-Schüler, der ein Notizbuch findet. Alle Personen, deren Namen er in das Buch schreibt, sterben.

Die neuen Produktionen von Netflix und Funk behandeln die Probleme von Teenagern, Berufswünsche und den ersten Kuss genauso wie Streit mit den Eltern. Themen wie Mobbing, Stalking, sexuelle Belästigung und Gewalt kommen vor, sogar Suizid bei Jugendlichen. Ihre Welt ist heute komplexer als noch vor zehn Jahren, weil Beliebtheit nicht mehr nur in Geburtstagsparty-Gästen, sondern auch in Instagram-Followern gemessen wird.

Dass die Streaming-Dienste so zielsicher Teenie-Themen erkennen, wird deren Entfremdung vom klassischen TV vermutlich noch verstärken. Aus jedem Teenager wird einmal ein erwachsener Zuschauer - oder Abonnent. Die neue Fernsehwelt zwingt alle Anbieter, sich schon früher um ihr Publikum von morgen zu bemühen.

Auch Tote Mädchen lügen nicht zeigt wie viele der neuen Produktionen ein diverseres Weltbild als klassische Teenager-Serien, auch weil es um eines der größten Tabuthemen geht, den Selbstmord eines Mädchens. Auch um Themen wie Homosexualität geht es in den neuen Serien.

Vielleicht hat Netflix bald genug Stoff für eine eigene Teenager-Rubrik. "Frauen, die aufs Ganze gehen" und "Filme nach Buchvorlage" haben bereits eine.

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