TV-Ereignis Olympia:Wettkämpfer der Herzen

Strahlende Sieger und herzergreifende Verlierer: Der Fernsehzuschauer erfährt während der Olympischen Spielen nicht nur Neues über so manche exotische Sportart. Vor allem lernt er Menschen kennen, ihre Geschichten und Emotionen. Die Athleten, die das Turnier prägen, sind nicht zwangsläufig die größten Leistungsträger.

Felicitas Kock

Wie ein Blitz fliegt Gabrielle Douglas über das weiße Viereck. Flickflack, Salto, Schraube. Diese Anmut! Diese Grazie! Die Moderatoren überschlagen sich beinahe vor Begeisterung über die Leistung der jungen Athletin.

TV-Ereignis Olympia: Die 16-jährige Amerikanierin Gabrielle Douglas gewann bei den Olympischen Spielen zwei Goldmedaillen - und die Herzen der Kommentatoren und des Publikums.

Die 16-jährige Amerikanierin Gabrielle Douglas gewann bei den Olympischen Spielen zwei Goldmedaillen - und die Herzen der Kommentatoren und des Publikums.

(Foto: AP)

Die 16-Jährige ist, wie es heißt, so etwas wie der Barack Obama unter den Kunstturnerinnen. Als erste Afroamerikanerin holte sie sich die Goldmedaille im Mehrkampf - und in einem präolympischen Interview beantwortete sie die Frage nach einem möglichen Sieg unter anderem mit dem Ausruf "Yes I can!". Für Sportkommentatoren sind derartige Vergleichsmöglichkeiten die Sahnehäubchen auf dem olympischen Powerriegel.

Das "fliegende Eichhörnchen", wie Douglas von ihren Fans genannt wird, dürfte vielen Zuschauern auch nach dem Ende der Wettkämpfe in Erinnerung bleiben. Alle vier Jahre werden die Spiele von einigen Sportlern mehr geprägt als von anderen. Die Athleten, die dem jeweiligen Turnier ihren Stempel aufdrücken, sind dabei nicht zwangsläufig die größten Leistungsträger. Es sind Persönlichkeiten, die durch ein außergewöhnliches Schicksal herausstechen, durch eine ausgeprägte Kamerapräsenz oder - und dann werden sie zu den Lieblingen der Berichterstattung - durch eine Mischung aus beidem.

Ist so eine Sportlerpersönlichkeit einmal entdeckt, werden immer neue Details aus den Tiefen der Kommentatorenkiste hervorgezerrt: Die im Bundesstaat Virginia aufgewachsene Gabrielle Douglas, weiß der aufmerksame Zuschauer nach spätestens drei Stunden Mehrkampf, turnte schon als Kleinkind auf den heimischen Möbeln herum - bis ihre Mutter ihr "professionelle Hilfe" in Form von Turnunterricht besorgte. Im Alter von 14 Jahren, die ersten nationalen Medaillen in der Tasche, verließ die Turnerin ihr Elternhaus im Bundesstaat Virginia, um fortan in Iowa zu trainieren. Sie lebt dort bei einer Gastfamilie, hat vier kleine Gastschwestern und ihre Mutter in den vergangenen zwei Jahren nur vier Mal gesehen.

Außergewöhnliche Lebenswege wie diese, gepaart mit einem strahlenden Lächeln, der Grazie einer jungen Elfe, einem herzerweichenden Tränenausbruch oder unerwarteter Heldenhaftigkeit bringen die Poschmanns und Sostmeiers dieser Welt zum Jauchzen - und dem Fernsehzuschauer eine Menge Informationen über Menschen, von denen er vor London 2012 noch nicht ahnte, dass sie für zwei Wochen einen Stammplatz auf dem heimischen Fernsehbildschirm einnehmen würden.

Wer die besten Partys schmeißt

Natürlich wird gerne über Gewinnertypen berichtet - über die deutsche Bahnradfahrerin Kristina Vogel, die nach einem schweren Unfall vor drei Jahren jetzt mit ihrer Teamkollegin Miriam Welte eine Goldmedaille erradelte. Über den Diskuswerfer Robert Harting, der dem deutschen Leichtathletik-Team den ersten Olympiasieg seit zwölf Jahren bescherte und seine Freude mit einem immer wieder eingeblendeten Hürdenlauf zum Ausdruck brachte. Oder über den allgegenwärtigen Usain Bolt, von dem der Zuschauer mittlerweile weiß, dass er die besten Partys im olympischen Dorf schmeißt.

Mit den Tränen fließen die Informationen

Doch auch nicht mit Gold gekrönte Kandidaten werden bisweilen von breitestmöglicher Hintergrundberichterstattung begleitet. So zum Beispiel der "Prothesenläufer" Oscar Pistorious. Der erste unterschenkelamputierte Leichtathlet, der bei Olympia in einer Laufdisziplin antrat, machte die 400-Meter-Läufe zum Spektakel. Wer den Halbfinallauf gewann, an dem er teilnahm, interessierte kaum jemanden - stattdessen gab es ausführliche Interviews mit Pistorius, dem vielfachen Paralympics-Gewinner von 2011, der die Sensation geschafft hatte, zu den Spielen in London zugelassen zu werden.

Manche Sportler rückten gar erst ins Zentrum der Berichterstattung, als ihr Wettkampf schon lange vorbei war - so etwa die Judoka Edith Bosch. Die Niederländerin kämpfte einen betrunkenen Mann zu Boden, der vor dem 100-Meter-Finale eine Flasche auf Usain Bolt geworfen hatte. Zuvor war die Bronzemedaillengewinnerin nicht sonderlich herausgestochen, ihr beherztes Eingreifen machte sie zur Heldin der Kommentatoren - und zu einer Sportlerin, von der auch in Zukunft noch viele Menschen in Verbindung mit London 2012 sprechen werden.

Neben Gewinnern und Helden gibt es dann natürlich noch eine dritte Gruppe von Sportlern, die den Berichterstattern ausgesprochene Freude bereitet: Die hoffnungslosen Verlierer. Athleten also, die so oft, so knapp und vor allem so herzzerreißend verlieren, dass ihre Tränen noch lange in Erinnerung bleiben werden.

Da ist die Fechterin Shin A Lam, die das Degenhalbfinale knapp und umstritten verlor. Während die Betreuer Protest einlegten und die Schiedsrichter diskutierten, saß sie eine volle Stunde auf der Planche und weinte Krokodilstränen. Immer wieder wurde die schluchzende Sportlerin eingeblendet - und der Zuschauer erfuhr ganz nebenbei von ihren Erfolgen bei der Asiatischen Meisterschaft 2012 und von ihren Anfängen im Fechtsport, die darauf beruhten, dass an ihrer Schule schlicht kein anderer Sport angeboten wurde. Mit den Tränen flossen die Informationen - dann stand die Entscheidung fest: Shin musste sich tatsächlich geschlagen geben. Eine vom Weltverband der Fechter angedachte Ehrenmedaille als Wiedergutmachung für ihre Seelenqualen wollte sie im Nachhinein nicht annehmen.

Neben Shin A Lam gehört der chinesische Hürdenläufer Liu Xiang zu den tragischen Figuren der Wettkämpfe - und auch an seinem Schicksal labten sich Kameras und Kommentatoren. Bereits bei den Spielen in Peking 2008 hatte er vor der ersten Hürde verletzungsbedingt aufgeben müssen, in London schaffte er es im ersten Vorlauf immerhin bis zur Hürde, trat dann aber in das Hindernis, verletzte sich und hinkte von der Bahn. Die Kameras ließen den sichtbar angeschlagenen Chinesen nach dem Missgeschick nicht aus dem Blickfeld des Fernsehzuschauers entkommen. Die Kommentatoren ergötzten sich an der alten Geschichte aus Peking und an der Prophezeihung, Lu Xiang werde bei Olympia wohl nie Erfolg haben, da er bei den nächsten Spielen mit 33 bereits zu alt sei.

Am Ende lässt sich festhalten, dass die außergewöhnliche Geschichte eines Sportlers oft mehr zählt als eine Kiste voller Medaillen - zumindest wenn es darum geht, in Erinnerung zu bleiben. Oder weiß noch irgenjemand, wer über 110-Meter-Hürden und im Degenfechten der Frauen Gold, Silber und Bronze gewonnen hat? Es sind vor allem die Medien, die darüber richten, welche Namen noch Jahre später mit "London 2012" verbunden werden - und die lieben nun mal hoffnungslose Verlierer und große Helden ebenso sehr wie strahlende Sieger.

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