TV-Ereignis Olympia:Schreien, zittern - Silber!

Degenfechterin Britta Heidemann liefert einen Krimi nach dem anderen und gewinnt die erste Medaille für das deutsche Olympia-Team. Das einzig Irritierende ist das Sirenengeschrei auf der Planche. Doch wer hätte gedacht, dass ein Fecht-Tag vor dem Fernseher so schön und aufregend sein kann.

Carolin Gasteiger

Plötzlich war Fechten die Disziplin des Tages. Deutschland hat immer noch keine Medaille, aber nun ist ja Britta Heidemann da. Sie soll nun retten, was noch zu retten ist. Immerhin hat sie vor vier Jahren in Peking schon Gold geholt.

Nicht, dass ich einen besonderen Bezug zum Fechten hätte, geschweige denn jemals einen Wettkampf angeschaut habe. Nun fällt meine erste Begegnung mit dem Fechtsport ausgerechnet auf diesen Olympia-Tag. Ein Tag, an dem Britta Heidemann einen Fecht-Krimi erlebt, der leicht in einer Liga mit James Bond mithalten kann. Der Tag, an dem die Kölnerin sich nicht nur als zweitbeste Fechterin der Welt bewährt, sondern Deutschland die erste Medaille der Londoner Spiele beschert. Aber das konnte ich anfangs nicht wissen.

Eigentlich wollte ich mir nur mal Fechten schauen, bei den Olympischen Spielen ist das schließlich so: Plötzlich interessiert man sich für Randsportarten. Wie elegant, präzise und flexibel sich die Fechter bewegen, zeugt von höchster Körperbeherrschung. Das leichtfüßige Tänzeln auf der engen Planche, die stets aufrechte Haltung und die blitzschnellen Attacken mit dem feinen Degen. Fechten ist Ästhetik pur. Aber eines stört: dieses Geschrei.

Es klingt wie ein angeschossener Vogel, als die Weltranglisten-Erste Yujie Sun ihren Kopf zum Himmel hebt. Ihr Gesicht ist von der Schutzmaske verdeckt und zunächst ist nicht klar, woher das ohrenbetäubende Geräusch kommt. Die Chinesin hat Imke Duplitzer soeben aus dem Wettbewerb katapultiert - ist diese nun verletzt? Oder Sun selbst? Alles falsch. Beim Fechten schreien nicht die Attackierten. Vielmehr plärren die erfolgreichen Angreifer ihre Freude raus.

Nun gehören Kampf- und Jubelschreie unweigerlich zu sportlichen Wettkämpfen dazu. Verschaffen sie den Athleten doch Erleichterung, geben der Freude Ausdruck und machen neuen Mut. Aber in nur wenigen Disziplinen ist das Kreischen so auffällig wie beim Fechten. Als Kind der achtziger Jahre in einer Tennis-Ära großgeworden, erinnern mich diese kurzen, hohen Sirenentöne an die Kampfschreie von Monica Seles. Dass das auch beim Fechten passiert, diesem ästhetischen Sport, voller Leichtigkeit, Eleganz und vermeintlicher Ruhe, verwundert.

Dabei lerne ich, dass das Gebrüll Tradition im Fechten hat. Ebenso wie jüngst Maria Scharapowas Laute auf dem Tennisplatz aufgeregte Diskussionen um ein Stöhn-Verbot auslösten, wurde Degenfechter Fritz Zimmermann schon in den sechziger Jahren ob seiner Schreie gerügt - und schließlich sogar von den Olympischen Spielen in Tokio ausgeschlossen. Begründung: "Hektische Schreie während des Fechtens".

Der Vogelschrei! Nun völlig zu Recht.

Britta Heidemanns Teamkollegin Monika Sozanska wusste davon offenbar nichts: Sie geht nach ihrem Sieg gegen die Russin Violetta Kolobowa zu Boden - und, wie könnte es anders sein: schreiend. Auch ihre Tonlage ist so hoch, dass einem die Ohren dröhnen. Immerhin lächelt sie, als sie die Maske vom Kopf nimmt.

Nicht nur das grazile Wippen macht Fechten so ästhetisch, auch die schnellen Attacken, das rasche Zurückziehen und diese Beweglichkeit! Wenn sie sich bewegen. Denn was Fechter mit voller Absicht auch tun können: nichts. Sich ihrer eigenen Sportart verweigern, indem sie den Gegner allenfalls mit dezentem Klingenkreuzen hinhalten, sich aber weder groß anstrengen und schon gar nicht attackieren. Man stelle sich vor, Britta Steffen würde einfach nicht vom Startblock abspringen - Disqualifikation! Das Reglement hält die Degenfechter inzwischen zum Attackieren an: Damit den Zuschauern nicht langweilig wird, beendet der Kampfrichter das laufende Kampfdrittel, wenn zu lange nichts passiert.

Britta Heidemann ist mittlerweile im Viertelfinale angelangt. Die Anspannung steigt mit jeder Begegnung. Denn die 29-Jährige kämpft sich einer Medaille entgegen. Das könnte erklären, warum ihr Gejohle auch immer sirenenhafter wird: Heidemann könnte den Medaillenbann brechen, der auf Deutschland lastet.

Hatte der Fechtsport vor der Begegnung von Britta Heidemann gegen Shin A Lam in mir einen neuen Fan gefunden, so ist dieses Halbfinale an Spannung jedoch kaum zu überbieten. Mit den Regeln dieses Sports nur leidlich vertraut, fiebere ich mit Heidemann mit, die sich einfach nicht durchsetzen kann gegen die Südkoreanerin. Sie attackiert und attackiert: Doppeltreffer. Aber nur ein Solotreffer kann sie zum Sieg führen. Die Zeit verrinnt, nur noch eine Sekunde. Attacke von Heidemann, Doppeltreffer. Immer noch eine Sekunde. Attacke Heidemann, Doppeltreffer. Immer noch eine Sekunde. Immer noch? Noch mal: Heidemann attackiert, trifft - und jubelt. Der Vogelschrei! Nun völlig zu Recht.

Die Kampfrichter zögern, der koreanische Trainer tobt, Shin A Lam bricht in Tränen aus. Drei Aktionen innerhalb einer Sekunde? "Sie verzeihen mir, wenn ich mal kurz den Atem anhalte", so Reporter Norbert König. Es herrscht Verwirrung um den Siegtreffer Heidemanns - und ein Zittern um den Einzug ins Halbfinale beginnt. Ein Pulk Männer diskutiert, die Schiedsrichterin steht als einzige Frau ratlos dazwischen. Nach einer gefühlten Ewigkeit - auch Norbert König weiß nicht weiter und gibt immer wieder zurück ins Studio - schreitet sie vor die Planche.

Sie hebt den linken Arm: Sieg für Heidemann! Was für ein Moment - es dürfte die längste Sekunde der Olympischen Spiele gewesen sein, schicksalhaft für die Deutsche, aber noch mehr für Shin A Lam, die danach allein auf der Planche sitzenbleibt. Und ihr Los nicht fassen kann.

Dass Heidemann im Finale gegen Jana Schemjakina aus der Ukraine den nächsten Krimi liefert, ist nun schon keine Überraschung mehr. Sie verliert diesmal im Sudden Death, doch das macht nichts. Die Show an diesem Tag war gut genug. Wer hätte gedacht, dass ein Fecht-Tag vor dem Fernseher so schön sein kann? Da dürfen Heidemann, Sozanska und Co. ruhig so weiterschreien.

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