TV-Ereignis Olympia:Helden des Sofas

Nie sind Niederlagen so niederschmetternd, Erfolge so überwältigend: Olympische Spiele sind ein TV-Mythos. Nun kann 16 Tage lang der Fernseher laufen. Selbst die windigste schwarz-rot-geile Berichterstattung kann dem Zuschauer den Spaß nicht verderben.

Thomas Hummel

Vor einer Woche stand am Fahrradparkplatz vor dem Hochhaus des Süddeutschen Verlags ein Kollege, ein ausgewiesener Musik-Experte. Er erzählte von seinem Urlaub mit der Familie, zwei Wochen werde er auf einer einsame Hütte in den Alpen verbringen. Ohne Fernseher. Sein Gesicht verfinsterte sich. Denn ein paar Tage zuvor hatte er bemerkt, dass sein Einsamer-Hütten-Urlaub genau auf Olympia fällt.

London 2012 - Bogenschießen

Da ging dem Fernsehzuschauer das Herz auf: Die talienischen Bogenschützen nach ihrem Gold-Schuss.

(Foto: dpa)

Wer wird denn heutzutage bekümmert sein, ein Sportereignis im Fernsehen zu verpassen? Jagt doch ein Fußballspiel das nächste Tennisturnier, Tour de France folgt auf Champions League, Zweitligaspiel auf Biathlon-Weltcup aus Sibirien. Alles live, stunden-, manchmal tagelang. Und dennoch: Der Kollege erhielt Beileidsbekundung. Mann, der arme Hund, Olympia und kein Fernseher!

Olympische Sommerspiele sind ein TV-Mythos. In diesen 16 Tagen dürfen Schulkinder selbst in vegetarisch-esoterischen Haushalten gleich nach dem Mittagessen die Glotze einschalten. Schließlich läuft einmal nicht der ewige Fußball, sondern Badminton oder Turnen oder Tischtennis. Und so trägt jeder seine Kindheitserinnerungen mit sich herum. Zumindest seit die öffentlich-rechtlichen Sender 1984 in Los Angeles mit der Rund-um-die-Uhr-Übertragungsstrategie loslegten.

Von damals sind zum Beispiel Erinnerungen an Pasquale Passarelli aus Ludwigshafen hängen geblieben: Im Kampf um die Goldmedaille im Bantamgewicht des Ringens führte er gegen den Weltmeister aus Japan deutlich, doch dann kam er in Rückenlage. Würde er mit beiden Schultern die Matte berühren, wäre der Sieg verloren.

Passarelli versuchte, sich durch eine Brücke vor der Niederlage zu retten. 80 Sekunden waren noch zu ringen, ewige 80 Sekunden. Passarelli verbog, verkrampfte seinen Körper, in Deutschland krallten sich die Finger ins Sofa. Der Japaner warf sich mit aller Kraft auf die Schultern von Passarelli, doch der wand und wehrte sich wie ein panischer Maikäfer. Als der Deutsche den Schlussgong hörte, blieb er regungslos liegen, seine Betreuer mussten ihm auf die Beine helfen. Als der Kampfrichter seinen Arm hob, sah Passarelli aus wie nach 24 Stunden Arbeit im Straflager. Auf Deutschlands Sofas wurde ein Ringer zum Helden.

Zugegeben, auf Deutschlands Sofas gab es am ersten Olympia-Tag von London 2012 keinen Helden. Zumindest keinen deutschen. Keinen Schwimmer wie Michael Groß, der damals in Los Angeles den obercoolen Amerikaner Pablo Morales auf den letzten zwei Metern noch überholte. Am Samstag sah man nur deutsche Schwimmer, die nicht wussten, warum sie so langsam waren. Schwimmer, die den olympischen Frust ins Wohnzimmer trugen.

Wann der Erziehungsberechtigte doch einschreiten sollte

Spaßbremsend kommt im Jahr 2012 hinzu, dass sich das ZDF in der Sportberichterstattung zu einem Schwarz-Rot-Geil-Sender entwickelt hat. So entwickelte sich der Tag aus dem Aquatics Center zu einer Betroffenheits-Show mit halbstündigen Rückblicken auf das große Scheitern vom Vormittag. "Wenn sie es noch nicht gesehen haben, hier noch einmal...", sagte Kathrin Müller-Hohenstein. Zum 25. Mal blickte Britta Steffen dann mit großen Kuhaugen auf die Anzeigetafel und konnte das Scheitern der Staffel nicht begreifen.

Die Leistungen der anderen Schwimmer in den Endläufen am Abend kam erschreckend kurz, zwischen den Rennen dafür immer wieder: "Wenn Sie es noch nicht gesehen haben, hier noch einmal..." Einmal immerhin geriet Müller-Hohenstein freudig aus der Fassung: "Ich muss ihnen schnell mitteilen, wer hier gerade nur ein paar Meter neben uns steht: Michelle Obama."

Doch selbst die windigste Berichterstattung kann einem den Spaß in diesen zwei Wochen nicht verderben. Dafür ist das Erlebnis Olympische Spiele einfach zu grandios. Gerade weil dort Sportarten geboten werden, die durch die Dominanz des Fußballs in Vergessenheit geraten sind. Die Turner fliegen wie Zirkusartisten durch die Luft, die Badmintonspieler hetzen doppelt so flink wie die Tennisprofis über den Platz und sind beweglich wie Gymnasten, die Ruder-Achter bieten ein Schauspiel von Kraft und Harmonie.

Hinzu kommt die Einmaligkeit des Ereignisses für die Athleten. Weil die Spiele nur alle vier Jahre stattfinden, sind selbst kleinste Wettkämpfe intensiv, Niederlagen niederschmetternd, Erfolge überwältigend. Und wer die oft angelernten, geplanten Jubelfeiern der Fußballer überdrüssig ist, dem ging das Herz auf bei der Freude der italienischen Bogenschützen nach ihrem Gold-Schuss.

Gut, es gab schon mal leichtere Zeiten, sich mit den Olympioniken zu freuen. Zeiten, als Doping und Manipulationen nur eine Ahnung waren und wenn, dann taten es natürlich nur die anderen. Vor dem 100-Meter-Finale 1988 in Seoul gab es kaum jemanden, der Carl Lewis gut fand, alle feuerten den tapsigen Kanadier Ben Johnson an. Als der dann allen davon lief, jubelten die deutschen Jungs und Mädchen auf dem Fernsehsofa. Mit dem Skandal tags darauf konnte niemand was anfangen.

Die kindliche Sicht auf die Olympischen Spiele hilft, sie noch mehr genießen zu können. Doch falls ein Knirps nach diesem ersten Tag in London Alexander Winokurow als einen Olympia-Held verehren sollte, müsste doch ein Erziehungsberechtigter einschreiten. Und ihm sagen: Es kommen noch andere, bessere Helden. Auch aus Deutschland. Und wenn es ein Ringer ist.

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