TV-Dokumentation:Wo leben wir hier eigentlich?

Die nervöse Republik

"Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht dann eben auch verwirkt", hört man Sahra Wagenknecht sagen. Dann fliegt die Torte.

(Foto: NDR/ARD-Hauptstadtstudio)

Hass auf Eliten? Der Untergang der Demokratie? Faschismus? Neuerdings alles denkbar. Die ARD-Doku "Nervöse Republik" zeigt ein Land am Ende der Gewissheit - und verliert sich in Hysterie.

Von Constanze von Bullion

Zu den lustigsten Szenen gehört natürlich die mit den Haribo-Gummitieren, die der Innenminister im Fond seines Wagens in sich hineinstopft, als habe er seit Tagen kein Essen mehr gesehen. Überhaupt wirken die Figuren seltsam übersteuert, so als könnte ihnen jeden Moment die Sicherung durchbrennen oder jemand vor Aufregung zusammenklappen.

Nervöse Republik heißt der neue Dokumentarfilm von Stephan Lamby, und er zeigt ein Land, dessen wortführende Klasse in eine Identitätskrise gerät. Lamby, der von Fidel Castro bis Helmut Kohl schon allerlei politisches Großwild mit der Kamera gejagt hat, um es zu porträtieren, ist ein Jahr lang Politikern in Sitzungen und Dienstwagen gefolgt oder hat Journalisten in Redaktionen besucht, wo sie - oft unbemerkt - von Geschichtenjägern zu Gejagten geworden sind.

Bevor allzu viel Nachdenklichkeit aufkommt, wummern die Bässe und Leute brüllen auf den Straßen

Ein Jahr wird da dokumentiert, in dem mit den Flüchtlingen die Angst nach Deutschland gekommen ist, und ihre Schwester, die Hysterie. Die AfD macht sich in Landtagen breit, am 3. Oktober skandiert das Volk "Volks-ver-rä-ter", statt sich zu freuen. Der Terror holt Deutschland ein in diesem Jahr und der Brexit Großbritannien, und wo die einen sich mit Wut betanken gegen die "Eliten" und die "Lügenpresse", setzt bei den anderen eine erste allgemeine Verunsicherung ein.

Wo leben wir hier eigentlich? Und was ist da draußen los, jenseits des politischen Berlin? Das sind so Fragen, die der Film aufwirft, ohne sie wirklich beantworten zu können. Denn bevor allzu viel Nachdenklichkeit aufkommt, wummern da schon die Bässe los und die Leute brüllen auf Sachsens Straßen, sie wünschen Journalisten zum Teufel oder bepöbeln Abgeordnete im Netz. "Ihr dummes Politikerpack", "Wir pinkeln auf dein Grab", so Sachen schickt man einander jetzt in Deutschland. "Ihr von der AfD werdet Weihnachten nicht erleben". Oder: "Besorg dir doch mal eine richtigen muslimischen Schwanz."

Ein Land dreht durch, dieser Eindruck drängt sich auf, je länger man Stephan Lambys TV-Doku zuschaut. Zunächst kreiselt der Diskurs da um Gestalten wie Frauke Petry von der AfD, die mit Chormädchengesicht und Ressentiment das Land vor sich hertreibt. Doch bei Petry allein bleibt es nicht. "Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht dann eben auch verwirkt", hört man da Sahra Wagenknecht sagen, und dann fliegt ihr schon die braune Torte ins Gesicht. CDU-Generalsekretär Peter Tauber verfolgt versteinert am Bildschirm, wie die CDU bei einer Landeswahl abstürzt. Katarina Barley, Generalsekretärin der 20-Prozent-Partei SPD, segelt strahlend in eine Sitzung des Präsidiums, wo ein sagenhaft schlecht gelaunter Sigmar Gabriel das Tagesprogramm herunterleiert.

Statt Austern im Berliner Borchardts gibt's zum Abendessen Haribo

Nervöse Republik, das ist ein Blick hinter Türen, die dem gemeinen Wähler verschlossen bleiben. Wagenschlag auf, Wagenschlag zu, so geht das immerfort. Er wolle die "Prozesshaftigkeit" von Politik und Journalismus verständlich machen und zeigen, dass Journalisten eben auch Fehler unterlaufen, sagte der Autor des Films, Stephan Lamby. Bei näherem Hinsehen wirken seine Protagonisten oft weniger mächtig als eingesperrt: in Konferenzräume, schwere Wagen, Denkblasen. Innenminister Thomas de Maizière fliegt da binnen zwei Tagen dreimal zwischen den USA und Berlin hin und her, während daheim Terrorpanik ausbricht. Statt Austern im Berliner Borchardts gibt's zum Abendessen Haribo auf dem Rücksitz. Das wirkt nicht privilegiert, sondern nötigt dem Zuschauer eher Respekt ab.

Eine Republik wie im Fieberwahn

Die Nervenbehalter, das sind die heimlichen Helden dieser Dokumentation, die eine Republik wie im Fieberwahn zeigt. Sie wird gejagt von Ängsten und Algorithmen, von Meldungen und Falschmeldungen, die sich binnen Sekunden im Netz verbreiten wie ansteckende Viren. Was aufregt, bringt Klicks und Quote, also Geld für Sender und Zeitungsverlage, nicht nur bei Bild. Redakteure als Weltendeuter und Manipulanten sind da unterwegs, aber auch als zunehmend verunsicherte Zeitgenossen. Kommt der Brexit? Nö, sagt ein Journalist vor dem Referendum in Großbritannien. Wieso? "Bauchgefühl", antwortet er. Es wird anders kommen.

Nervöse Republik, das ist eine Geschichte vom Ende der Gewissheit und der Selbstgewissheit. Im Film bricht sie zum Beispiel um vier morgens an, in einer Nachrichtenredaktion, wo fassungslose Redakteure die Auszählung des britischen Referendums verfolgen. Aber auch bei CDU-Generalsekretär Peter Tauber scheint die alte Ordnung durcheinander geraten zu sein. Die CDU teste Computerprogramme, die automatisch Wähleranfragen beantworten, erzählt er munter. Beschickt die CDU den Wähler jetzt etwa auch mit Social Bots oder anderen digitalen Meinungsmachwerk? "Wir überlegen das", antwortet Tauber.

Doch, lustig ist er bisweilen schon, der Film von Stephan Lamby. Je länger er aber dauert, desto stärker wirkt er gefangen in eben jener Hysterie, die er zu beschreiben sucht. Im vorwärtsdrängenden Beat immer neuer Anschläge und immer lauter brüllender Wutbürger scheint alles irgendwie aufs Inferno zuzulaufen. Das Ende der Europäischen Union? Der Untergang der Demokratie? Faschismus? Klar, neuerdings alles denkbar. Und dann?

Und dann hat das kleine Saarland gewählt, die CDU hat gewonnen, die AfD war enttäuscht, und aus einem Ballon namens Angst entwich mit leisem Zischen eine Menge heiße Luft. Im Film kommt das alles nicht mehr vor. Es hätte aber auch nicht ins Bild gepasst.

Nervöse Republik, ARD, Mittwoch, 22.45 Uhr.

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