TV-Doku "Verlorene Ehre":Auf der Suche nach Reue

Lesezeit: 3 min

Vor sechs Jahren erschoss Ayhan Sürücü "zum Wohle der Familie" seine Schwester Hatun. Weil sie in Deutschland ein modernes Leben führen wollte. Nun spricht der "Ehrenmörder" zum ersten Mal über die Tat in einer TV-Dokumentation - die erschauern lässt.

Carolin Gasteiger

Mit starrem Blick und ausdruckslosen Augen spricht Ayhan in die Kamera: "Ich war mit mir selbst zufrieden, weil ich diesen Entschluss endlich vollbracht hatte". Es geht dabei um einen Mord, den der 24-Jährige vor sechs Jahren begangen hat. An seiner eigenen Schwester Hatun.

Ayhan Sürücü im Gefängnis in Berlin-Charlottenburg. In Verlorene Ehre - Irrwege der Familie Sürücü spricht er erstmals über den Mord an seiner Schwester Hatun. (Foto: rbb/Matthias Deiß)

Hatun Sürücü wollte modern leben, westlich, deutsch. Als sie nach der Scheidung von ihrem Cousin ihr Kopftuch ablegt, sich schminkt und eine Ausbildung zur Elektrikerin macht, passt ihr Leben nicht mehr in das Weltbild ihrer strenggläubigen Familie. Sie wird zum Schandfleck der Sürücüs. Und muss es im Alter von 23 Jahren mit ihrem Leben büßen, als ihr Bruder ihr an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof drei Kugeln in den Kopf schießt.

Der Fall entsetzte die Bundesrepublik und löste eine Debatte über Zwangsheirat und Integration aus, die noch immer andauert. Sechs Jahre nach der Tat stellen sich die Journalisten Matthias Deiß und Jo Goll die Frage, wie es mitten in Deutschland zu einem sogenannten Ehrenmord kommen konnte.

In ihrer TV-Dokumentation Verlorene Ehre - Der Irrweg der Familie Sürücü äußert sich der Täter Ayhan Sürücü zum ersten Mal öffentlich. Anfangs hatte er starke Bedenken, erzählt Matthias Deiß, doch nach zweieinhalb Jahren schließlich vertraut er sich den Reportern an. Denn sie wollen dem jungen Mann, der im Gefängnis in Berlin-Charlottenburg einsitzt, nun öffentlich seine Geschichte erzählen lassen.

Vor zwiespältigen Gefühlen bleiben die beiden RBB-Journalisten während der Dreharbeiten nicht verschont: "Einerseits sitzt man einem höflichen jungen Mann gegenüber, der alles dafür tut, dass man sich in der Zelle wohlfühlt und sogar Tee kocht. Andererseits guckt man in eiskalte Augen, wenn er über seine Schwester und über die Tat spricht", erzählt Matthias Deiß im Gespräch mit sueddeutsche.de.

Ayhan gibt zu, dass der Mord an seiner Schwester "der größte Fehler seines Lebens" gewesen sei. Doch mit seiner Tat habe er die Familienehre retten wollen - die Ehre einer Familie, die es nun nicht mehr geben kann.

Die Dokumentation beleuchtet ein Einzelschicksal und genau dieser Fokus zeichnet den Film aus. Zurückhaltend aber eindrücklich nähern sich Deiß und Goll dem heiklen Thema und lassen Täter und Zeugen gleichermaßen zu Wort kommen.

Im Alter von 23 Jahren musste Hatun Sürücü ihren westlichen Lebensstil mit dem Leben büßen. (Foto: WDR)

Neben Ayhan Sürücü standen auch seine beiden Brüder vor Gericht, der eine soll die Waffe besorgt, der andere Schmiere gestanden haben. Nach einem Freispruch mangels Beweisen leben beide inzwischen im Ausland.

Den einen Bruder, Mutlu Sürücü, haben die Filmemacher in Istanbul besucht. Obwohl er mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, fühlt er sich dort als freier Mann. Auch wenn er eine Mitschuld am Tod seiner Schwester einräumt, sucht man bei ihm vergeblich nach einem Zeichen der Reue. Dass sein Bruder einen Fehler begangen habe, gibt er zwar zu. Dass aber auch seine Schwester eine "Straftat" begangen habe und dafür in einigen islamischen Ländern gesteinigt worden wäre, scheint ihm ebenso wichtig zu sein.

Die Äußerungen der Sürücü-Brüder lassen den Zuschauer sprachlos zurück, zum Beispiel wenn Ayhan sagt: "Ich hatte nie einen deutschen Freund. Den ersten deutschen Freund habe ich im Knast kennengelernt". Man fragt sich, wie eine derartige Parallelgesellschaft existieren kann, mitten in Berlin. Und man fragt sich, wie die Gesellschaft darauf reagieren soll. Eine Antwort darauf bleibt die Dokumentation leider schuldig. Doch das ist gewollt - eine politische Debatte wollen Deiß und Goll nach eigener Aussage mit ihrem Film nicht führen.

"Den Begriff hielt ich für abgedroschen, bis ich wirklich gemerkt habe, dass es diese Parallelgesellschaft tatsächlich gibt", sagt Matthias Deiß. Und sein Kollege Goll fügt hinzu: "Wir haben mit dem Film ein Wertesystem aufgedeckt, das immer noch tief in den Köpfen verwurzelt ist". Ob im Gefängnis in Berlin-Charlottenburg, bei Ayhans bestem Freund in Berlin, in Istanbul oder in dem kleinen Dorf in einem Winkel Ostanatoliens, aus dem die Sürücüs stammen - immer wieder stoßen die Autoren auf einen Nenner: Hatuns Lebensstil war nach islamischen Vorstellungen und für die Familie nicht tolerierbar. Mit diesem streng muslimischen Wertesystem wuchsen Ayhan und seine Brüder auf, diesen für sie unverrückbaren Prinzipien, die sie ihre Schwester so haben hassen lassen. Ein Hintergrund, der erschauern lässt.

Und der auch im Nachhinein unüberwindbar zu sein scheint: Weder Ayhan noch Mutlu nehmen den Namen ihrer Schwester Hatun in den Mund - nicht einmal während des gesamten Films.

"Verlorene Ehre - Der Irrweg der Familie Sürücü", Mittwoch, 27.07.2011, ARD, 23 Uhr

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