Türkische Chronik (XLIII):Das Messer hat den Knochen getroffen

Protestmarsch gegen Verurteilung von Abgeordneten

Der Vorsitzende der türkischen Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu (Mitte), am siebten Tag eines Protestmarsches, gemeinsam mit ehemaligen Athleten.

(Foto: dpa)

Genug ist genug: Die größte türkische Oppositionspartei CHP protestiert nun auf der Straße.

Gastbeitrag von Yavuz Baydar

"Das Messer hat den Knochen getroffen ..." Mit diesen Worten startete der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu vor mehr als einer Woche seinen langen "Marsch für Gerechtigkeit" in Ankara. 423 Kilometer und 20 Tage später hofft er, seine Aussage vor einem Gefängnis in Istanbul wiederholen zu können. Sein größter Wunsch ist es, dass so viele unzufriedene Wähler wie möglich sich dem Marsch anschließen.

Genug ist genug ... Dass die wichtigste türkische Oppositionspartei an diesem Punkt angekommen ist, läutet eine neue Phase in der türkischen Politik ein. Lange blieben die säkularen Kemalisten der Republikanischen Volkspartei (CHP) der AKP-Regierung gegenüber zahm, ängstlich, zögerlich, selbst dann, als die AKP immer mehr Macht für sich beanspruchte. Bis zuletzt bestand die CHP darauf, sich nur parlamentarisch engagieren zu wollen und auf das "Recht" zu setzen, in einem Land, in dem die Rechtsstaatlichkeit längst kollabiert ist.

Zur Person

Yavuz Baydar ist kein Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, sondern ein türkischer Gastautor. Er wurde 1956 geboren und ist Journalist, Blogger und Mitgründer von P 24, einer unabhängigen Medienplattform in Istanbul. Für seine Arbeit wurde er 2014 mit dem European Press Prize ausgezeichnet. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Für die SZ schreibt regelmäßig Gastbeiträge.

Das Ergebnis und die Ungereimtheiten beim Referendum bringen die CHP-Anhänger auf die Straße. Kritische Stimmen aus der Parteibasis hatte ihr Vorsitzender Kılıçdaroğlu lange Zeit ignoriert. Doch nun scheint der "letzte Tropfen" auch bei den Kemalisten das Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Dieser "Tropfen" sind die 25 Jahre Haft, zu denen ein Gericht meinen Freund und früheren Kollegen, den Journalisten und CHP-Abgeordneten Enis Berberoğlu, verurteilte. Er ist der erste Politiker der größten türkischen Oppositionspartei, der ins Gefängnis muss. Vor mehr als einem Jahr machte er publik, dass er es war, der den Journalisten der Zeitung Cumhuriyet Akten zugänglich machte, die nachweisen, dass von der Türkei Waffen an islamistische Gruppen in Syrien verkauft wurden. Ein spektakulärer Prozess folgte: 13 Journalisten der Zeitung wurden angeklagt, einschließlich Erdem Gül und Can Dündar. Mein Freund Enis stand ebenfalls vor Gericht und wurde für schuldig befunden, "Geheimnisverrat" und "Spionage" begangen zu haben, zudem sei er laut Gericht Unterstützer "gülenistischen Terrors", ohne jemals ein Mitglied in der von Islamprediger Gülen angeführten Bewegung gewesen zu sein.

Das Absurde an dem ganzen Prozess: Es war nicht einmal die Cumhuriyet, die als Erste über die Waffenlieferung berichtete. Die ultranationalistische Tageszeitung Aydınlık, Presseorgan der rechten Splitterpartei Vatan Party (VP), machte den Waffendeal schon am 21. Januar 2014 öffentlich. Prozesse zog das aber nicht nach sich. Inzwischen sind die VP-Nationalisten und ihre Zeitung stramme Unterstützer der AKP-Politik und Verteidiger ihres Vorgehens gegen Kurden. Ein Indiz mehr, dass die Cumhuriyet-Prozesse politisch motiviert waren.

Die Immunität meines Freundes Enis wurde im Mai 2016 aufgehoben. Die CHP befand sich in einer misslichen Situation, hatte sie selbst doch vorher die Aufhebung der Immunität der prokurdischen Abgeordneten gebilligt. Vom linken Flügel der Partei gab es damals scharfe Kritik am Parteivorstand.

Das scheint alles vergessen. Nun marschiert Kılıçdaroğlu von Ankara nach Istanbul mit einem Plakat, auf dem "Gerechtigkeit" steht, gefolgt von Tausenden Anhängern. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan reagierte mit einer Drohung: Wenn sich die Justiz bald bei Kılıçdaroğlu melden würde, solle er sich nicht wundern.

Erdoğan machte eine klare Ansage

Ich habe mit Enis in den schwierigen Jahren nach dem Militärcoup 1980 bei Cumhuriyet zusammengearbeitet. Danach gingen wir unsere eigenen Wege. 2009 setzte ihn Aydın Doğan, Vorsitzender der Doğan-Mediengruppe, als Chefredakteur für die Zeitung Hürriyet ein, wo Enis im August 2014 aufhörte, weil der politische Druck von Verlagsseite immer größer wurde.

Das war sein Moment, in dem das Messer auf den Knochen traf.

Was für ein schauriger Moment muss es nun gewesen sein, als Anfang dieser Woche sein ehemaliger Chef, besagter Aydın Doğan, mit Erdoğan und anderen Medienvertretern gemeinsam Ramadan an einem Iftar-Tisch feierte. Und das, kurz nachdem Enis ins Gefängnis kam. Enis' Fall sollte den Medien wohl klarmachen, was auf sie zukomme.

Als der Protestmarsch begann, berichtete der Sender der Doğan-Gruppe über Belangloses

Erdoğan machte eine klare Ansage: "Einige westliche Institutionen kommen zu uns mit der Kritik, bei uns seien Journalisten in Haft. Schaut, Freunde, hier sind die Zahlen: Von den 177 Menschen, die sagen, sie seien als Journalisten verhaftet worden, besitzen nur zwei einen Presseausweis. Einer sitzt im Gefängnis, weil er einen Mord begangen hat, der ganze Rest, weil er Verbindungen zum Terrorismus hat. Wir sagen: Glaubt ihr den Unterlagen unserer Regierung oder den verbreiteten Lügen?

Journalismus und Hochverrat sind zwei verschiedene Dinge. Es gibt keinen Unterschied zwischen denjenigen, die Artikel im Auftrag der Terroristen schreiben, und jenen, die selbst zu den Waffen greifen und in die Berge gehen. Ein Preis wird gezahlt werden müssen, wenn es um unsere nationale Sicherheit geht. Vergesst nicht: Justiz gehört in Gerichtssäle, nicht auf die Straße."

Weiter sagte Erdoğan, der Gerechtigkeitsmarsch der CHP sei ein Akt des Terrors. Keiner der Medienvertreter wagte eine Frage. Natürlich wurden auch Fotos geschossen: Das Lächeln, das Aydın Doğan beim Handschlag Erdoğan zuwarf, ist bezeichnend - sein ehemaliger Mitarbeiter Enis Berberoğlu scheint vergessen.

Nur die inzwischen marschierende CHP kritisierte das Treffen der Medienvertreter mit dem Präsidenten. Der Abgeordnete Aykut Erdoğdu interpretierte die Rede Erdoğans dahingehend, dass Erdoğan die Journalisten bedränge, nicht über den Marsch der CHP zu berichten. Und tatsächlich: Am Tag, als die größte Oppositionspartei der Türkei, die CHP, ihren Protestmarsch in Ankara begann, wurde bei CNN, einem Sender der Doğan-Gruppe, über viel Belangloses berichtet. Über den Marsch hingegen nicht.

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Timo Lehmann.

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