"The Voice of Peace" in der ARD:Vom Frieden besessen

ARD-Dokumentation Abie Nathan

Das viele Geld, das Abie Nathan (im Bild 1982 in Tel Aviv) einnahm, verwendete er nie für sich selbst.

(Foto: dpa)

Abie Nathan traf Jassir Arafat und verteilte Spielzeug an Kinder in Ramallah. Vor allem aber sendete er zwanzig Jahre lang von einem ausrangierten Frachter aus Musik und Friedensbotschaften. Die ARD zeigt nun ein sehenswertes Porträt des israelischen Aktivisten.

Von Thorsten Schmitz

Die ungewöhnlichste Friedenspolitik im Nahen Osten hat Abraham "Abie" Nathan betrieben, zweifellos. Sie bestand nicht aus Gipfeltreffen und Kriegseinsätzen, sondern aus der Beschallung des östlichen Mittelmeerraums mit Songs von den Bee Gees, Earth, Wind and Fire und Gloria Gaynors "I will Survive". Sie bestand auch - aus einer täglichen Schweigeminute, immer zum Sonnenuntergang: "Und jetzt kommt, ihr kennt das Ritual, 30 Sekunden keine Musik, weil wir an alle denken, die ihr Leben durch Gewalt verloren haben."

Zwanzig Jahre lang hat Abie Nathan auf einem ausrangierten Frachter vor der Küste Israels Musik und Friedensbotschaften gesendet, auf Englisch, Hebräisch, Arabisch. Sein Sendegebiet war gigantisch: 30 Millionen Menschen in Israel, Libanon, Syrien, Jordanien und Ägypten haben ihre Radios auf UKW 100 eingestellt und der "Voice of Peace" gelauscht, der Stimme des Friedens.

Israels Präsident Schimon Peres, der seit 60 Jahren Politik macht und bis heute keinen Frieden erlebt hat, räumt ein: "Frieden muss durch Menschen, nicht durch Regierungen erreicht werden. Abie Nathan hat uns gezeigt: Er war im Recht, wir im Unrecht." Eric Friedlers packender Dokumentarfilm ist gespickt mit solchen faszinierenden Sätzen.

Er hat's versucht

Wenn man sich heute in Israel umhört unter Menschen, die jünger sind als vierzig, erntet man Schulterzucken: "Abie wer?" Keine Straße ist nach ihm benannt worden, keine Schule. Nur auf der Promenade von Tel Aviv findet man in einer Betonwand einen Knopf, und wer ihn drückt, hört den Jingle von Abie Nathans sagenhaftem Radioprojekt: "Peace is the word. And the Voice of Peace is the station 24 hours a day." Auf seinem Grabstein in Tel Aviv steht: "Ani nisiti" - Ich hab's versucht.

Was hat Abie Nathan nicht alles versucht! Der persische Jude, der in Indien aufwächst und dort Pilot der britischen Royal Air Force wird, wandert 1948 nach Israel ein. Mit 21 Jahren nimmt er am Unabhängigkeitskrieg teil. Der schärft sein Bewusstsein für die Realität, wie sie ist, nicht, wie sie propagiert wird. Er glaubt nicht der staatlich gestreuten Mär, dass die meisten Araber im Unabhängigkeitskrieg freiwillig geflohen sind; denn er selbst hat, als Pilot der israelischen Streitkräfte, palästinensische Dörfer bombardiert.

Ein mutiger Mann

Jahre später erfährt Nathan, dass er bei einem seiner Bombardements das Haus einer arabischen Familie beschädigt und dabei eine Frau verletzt hat, die seitdem bettlägerig ist. So besucht er sie eines Tages, bittet sie um Vergebung und schenkt ihr einen Rollstuhl.

Der Gedanke an Frieden ließ Abie Nathan nie los. Er wartete nicht, bis ein Friedensgipfel ausgerufen wurde oder die Uno einschritt im Streit zwischen den arabischen Staaten und Israel, sondern er ergriff selbst Initiative. Er fuhr mit seinem Schiff - beladen mit Blumen - durch Ägyptens Suez-Kanal, traf Jassir Arafat und ging dafür ins Gefängnis, er verteilte Spielzeug an Kinder in Ramallah, und bei aller Selbstlosigkeit war er auch den amüsanten Seiten des Lebens zugeneigt: Er konnte bis morgens um drei Uhr auf Partys in Tel Aviv tanzen - und rief um sechs Uhr seinen Freund (und heutigen Haaretz-Journalisten) Gideon Levy an: "Kommst du mit, ich fahre jetzt in den Gaza-Streifen und treffe den Hamas-Vize?"

Radikale Selbstlosigkeit

In den Sechzigerjahren eröffnete Nathan in Tel Aviv das erste Hamburger-Restaurant, ganz Tel Aviv traf sich dort, die Künstler, die Nachtschwärmer, all die, die den sozialistischen Kibbutz-Muff hinter sich lassen wollten. Auch Ruth Dayan, die inzwischen 95-jährige Witwe des ehemaligen Verteidigungsministers Mosche Dayan, kannte Abie und aß in seinem In-Treff: "Wir hätten längst Frieden haben können", ist sie überzeugt, "wenn wir Abies Weitsichtigkeit gefolgt wären."

Abie Nathan schien seiner Zeit voraus und gesegnet mit einem einzigartigen Charakterzug: Mut, Dinge zu versuchen, die niemand wagt. 1966, Ägypten wird von Gamal Abdel Nasser regiert, der Israel das Existenzrecht abstreitet. Was macht Abie Nathan? Er kauft ein Propellerflugzeug, und an einem strahlend schönen Sonnentag hebt er ab und fliegt nach Port Said, ins feindliche Ägypten. In ersten Meldungen im Radio heißt es, er sei von einem wütenden Mob in Ägypten gelyncht worden. Doch tatsächlich haben die Ägypter ihn umarmt und geküsst.

Den Dokumentarfilmer Eric Friedler, beim NDR für Sonderprojekte zuständig, hat bei der Recherche "fasziniert, mit welcher Selbstlosigkeit Abie gelebt und was er bewirkt hat. In so einer radikalen Form ist das heute gar nicht mehr denkbar". Friedler ist überzeugt: "Abie Nathan wäre heute garantiert der Erste, der nach Syrien fährt und den Bürgerkriegsflüchtlingen Decken gibt, die sie vor dem Schneefall schützen sollen."

Nichts ist unmöglich

Unmögliches scheint möglich, diese Erfahrung spornt Abie Nathan zu seinem Lebensprojekt an: einem eigenen Radiosender. 1973 geht Israels erster Friedensaktivist mit seinem Radioschiff on Air, weil er an Land keine Genehmigung für einen Privatsender bekommt. Tagelang ist er auf dem Schiff, mit Freunden (und sehr vielen Frauen, die ihm zu Füßen lagen). Geht er an Land, wird er in Tel Aviv sofort umringt.

Er ist ein Star. "Er war ein fantastischer Mensch", sagt Yoko Ono, "seine Taten sollten für immer erinnert werden!" John Lennon setzte Abie Nathan sogar musikalisch einen Thron und erwähnt seinen Namen im Friedenssong "Give Peace a Chance". Der Ex-Beatle und seine Frau Ono unterstützten Abies Projekt auch finanziell.

Abie Nathans Ruf war grenzenlos: Gloria Gaynor kam ihn besuchen, erklomm die Leiter auf sein Schiff, und er hatte ein weltexklusives Interview mit jener Frau, deren B-Seite ("I will Survive") gerade die Charts gesprengt hatte. Statt vier Millionen Zuhörer hatte "The Voice of Peace" an diesem Radioabend acht Millionen Zuhörer - darunter viele aus arabischen Staaten, in denen westliche Musik verpönt war.

Sogar Coca-Cola konnte Abie Nathan in die Knie zwingen. Alle Firmen der Welt schalteten auf seinem Friedensboot Radiowerbung, sie wussten: 30 Millionen Zuhörer sind 30 Millionen potenzielle Kunden für Zigaretten und Autos. Manchmal flossen 200 000 US-Dollar aufs Schiffskonto - im Monat.

Nur Coca-Cola weigerte sich, dem Limogiganten ging Abie Nathans Friedensmission zu weit. So ersann der frühere Kampfpilot Rache und kreierte Radiowerbung für Wasser. Man solle klares Leitungswasser trinken, es sei gesund, ohne chemische Zusatzstoffe und habe einen Vorteil: Es sei umsonst. Wochenlang erklang der Spot, und tatsächlich begannen in Israel viele, nur noch Wasser zu trinken. Bis Coca-Cola schließlich nachgab.

Sein Projekt war seine Familie

Das viele Geld, das Nathan einnahm, verwendete er nie für sich selbst. Immer finanzierte er damit andere Projekte, flog in Hungergebiete nach Afrika, zu Kriegsverletzten nach Kambodscha. Sein Projekt war seine Familie, für eine eigene hatte er keine Zeit.

Eric Friedler ist ein großer Film gelungen. Rasant, vergnüglich und traurig stimmend zugleich zeichnet er den unglaublichen Weg eines Menschen nach, der mit Sadat, Arafat und Peres geredet und Millionen Menschen mit seinem Piratenschiff glücklich gemacht hat und 2008 nach zwei Gehirnschlägen in Tel Aviv verstorben ist.

Was von Abie Nathan bleibt, sind die Erinnerung und ein Wrack. 1993, als die Sponsoren-Gelder versiegten, ging er ein letztes Mal auf Sendung. Dann schweißten er und seine Radio-Crew Löcher in den Schiffsrumpf und versenkten ihren Traum. Noch heute liegt das Schiff auf dem Meeresboden, in 110 Meter Tiefe.

The Voice of Peace, ARD, 22.45 Uhr.

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