"Tatort":Her mit den deutschen, stinklangweiligen Beamten!

Tatort; Tatort Münchner Kindl

Brummen statt ballern: Gustl Bayrhammer als Tatort-Kommissar Veigl mit seinem Dackel Oswald.

(Foto: BR/Foto Sessner)

Sie bestellen sich Callboys oder müssen ihrer Tochter eine Bombe aus dem Bauch operieren: Die Kommissare im "Tatort" sind heutzutage nur noch irre Sonderlinge. Wie öde!

Von Gerhard Matzig

Kein Aufzug, Melchior Veigl nimmt die Treppe. Die Stufen knarzen bei jedem seiner Schritte, die immer langsamer werden - je näher er dem Tatort kommt. Eine Wohnung in Haidhausen, München. Eine ledige Apothekerin. Tot. Vier Schüsse in die Brust. Und noch viele Stufen. Der Lodenmantel liegt ihm schwer auf den Schultern, der Hut drückt ihn nach unten, die Brille mit Goldrand gräbt sich in die Nasenwurzel, der dicke Bauch zieht ihn runter.

Bald bleibt er auf jeder zweiten Stufe stehen, um Luft zu schöpfen und auch deshalb, weil ihm die Zeugin, die die Leiche oben gefunden hat, mit ihrem endlosen Geplapper in den Ohren liegt. Woraufhin Kriminalhauptkommissar Veigl hie und da brummt: "ach so", Stufe, Pause, "ach ja", Stufe, Pause, "hm", "aha" oder "soso", Stufe, Pause. Pause. Pause.

Die ist jetzt vorbei, am Sonntag wird nach der Sommerpause die 990. Tatort-Folge gezeigt - natürlich nicht mit Veigl, sondern dem Ermittler-Duo Ballauf/ Schenk aus Köln. Weil bayerische Schulferien, Bundesligapause und Tatort-Pause zusammengenommen viel zu pausenhofhaft sind im Leben, rettete man sich zuletzt mit alten Tatort-Folgen durch diese seltsamen Nächte. Allein schon, um den Bikinis beim Beachvolleyball und den Piaffen der Dressurreiter zu entgehen. So begegnete man mal wieder dem Veigl.

Man hätte, zugegeben, auch Sinnvolleres unternehmen können. Aber dann wäre einem nicht klar geworden, wie sehr man mittlerweile einen ganz bestimmten Kommissar-Typus vermisst: nämlich den leidenschaftlich langweiligen Beamten. Einen wie Veigl, dargestellt von Gustl Bayrhammer, dessen letzter Einsatz 1981 in der 123. Tatort-Folge "Usambaraveilchen" gerade eben im BR zu sehen war. Es war der letzte Fall für Veigl. Bayrhammer sagte damals im Interview: "Des Krimifach, des is doch scho lang a abg'mahte Wiesn."

Das stimmt ja nun nicht, wie die bald tausend Folgen umfassende Tatort-Erfolgsgeschichte zeigt. Aber die Beamten unter den Kommissaren wurden zuletzt immer grausamer abg'maht, als Langweiler in den Ruhestand versetzt und ersetzt durch: Action-Imitatoren (Nick Tschiller/dargestellt von Til Schweiger), Komödianten (Karl-Friedrich Boerne/Jan Josef Liefers), alkoholkranke Einzelgänger (Frank Steier/Joachim Król), psychopathologisch begabte Hellseher (Peter Faber/Jörg Hartmann), dauerjoggende Katzenliebhaberinnen (Lena Odenthal/Ulrike Folkerts) oder Figuren, die auf schrecklich nervöse Weise so nebelhaft erscheinen, dass man das Gefühl bekommt, man sähe ihnen nicht bei der Verbrecherjagd, sondern beim Speed-Dating zu: Eva Saalfeld alias Simone-nur-gucken-nicht-anfassen-Thomalla.

Es wird also Zeit, dem ruhenden, stinknormalen Beamten unter den dauerhektischen Tatort-Irren und Sonderlingen einen Nachruf zu schreiben. Viele gibt es davon nicht mehr: Klara Blum vielleicht noch, dargestellt von Eva Mattes. Und natürlich den letzten ganz großen Kommissar: Klaus Borowski, der fulminant gespielt wird von Axel Milberg.

Die Ambivalenz aus Spießertum und Abgrund macht einen guten Kommissar aus

In einer Folge soll Borowski die Frage beantworten, warum er Kommissar geworden sei. Er sagt, er habe sich nicht zwischen Beamter und Verbrecher entscheiden können. So sei er eben beides geworden. Das ist ein wichtiger Satz, denn der Kommissar ist dann ein guter Kommissar, wenn er als Beamter auf der guten Seite steht, aber das Verbrechen auf der dunklen Seite der Macht kennt und versteht.

Zwischen Spießertum und Abgrund

Die Ambivalenz aus Spießertum und Abgrund macht einen guten Kommissar aus. Der Rest, all diese Kommissare, die ständig ihr Privatleben auf die Reihe kriegen müssen (Franz Leitmayr/Udo Wachtveitl), die sich Callboys bestellen müssen (Martina Bönisch/Anna Schudt), die durch die Hotelzimmerwand fliegen müssen (Nick Tschiller), deren Kollegen beinahe vom Mähdrescher zerhäckselt werden (Nick Tschiller) oder ihrer Tochter eine Bombe aus dem Bauch operieren müssen (Nick Tschiller): Das ist ein großes Missverständnis von Suspense. Der Tatort ist nicht Hollywood. Die Zeit, die Veigl für einen Treppenabsatz braucht, reicht bei Tschiller aus, um mindestens die ersten fünf Leichen zu produzieren. Wie fad ist das denn.

Weil das Besondere gewöhnlich geworden ist, schaut man eigentlich nur noch gern Axel Milberg zu im Tatort - oder, im Polizeiruf 110, Matthias Brandt in seiner Rolle als Kommissar Hanns von Meuffels. Dazwischen betet man, es werde mal wieder ein Bienzle, ein Veigl, Marek, Haferkamp oder Stoever gezeigt. Lauter Langweiler natürlich. Aber eben drum so erfrischend. Die armen Schauspieler: Sie müssen Exoten zeigen, weil man der Schauspielkunst und dem Drehbuch nicht traut.

Veigl sitzt also da, Zimmer 114, vor sich eine wirklich üble Schreibgarnitur, hinter sich den Aktenschrank, daneben ein trauriges Waschbecken; es riecht förmlich nach Dienstschluss um 17 Uhr 15, Betriebssport, deutschen Gesetzen und Linoleum. Veigl ist einer, der wegen einer Leiche noch keine Urlaubsplanung über den Haufen wirft. Gerade das macht es ja so interessant: Das Banale ist die Grundlage des Schauspiels.

Schimanski war innovativ - seither sind alle Schimanski

Rückblickend kann man natürlich verstehen, warum Götz George so erfolgreich war: Weil er als Kommissar Horst Schimanski, erstmals zu sehen in jenem Jahr, da Veigl abtrat, 1981, durch die Wände knallen, Sex im Wohnwagen haben, sich besaufen durfte. Und weil ihm seine Pensionsbezüge egal sein durften. Er war das Gegenteil des deutschen Beamten und genau deshalb gut. Er war innovativ. Aber seither sind ein paar Hundert Tatort-Folgen vergangen, seither sind sie alle wie Schimanski. Nichts ist öder als das. Nichts ist erwartbarer als die serielle Innovation. Nichts ist mittelmäßiger als die Angst vor dem Mittelmaß.

Wer wissen will, was einen grandiosen Kommissar zum grandiosen Kommissar macht, sollte ein paar Dutzend Kommissar Maigret-Romane von Georges Simenon hintereinander weglesen. Von diesem Kommissar weiß man: Er geht manchmal mit seiner Frau ins Kino, er isst gern Sauerkraut, er trinkt viel (aber nie zu viel), er stopft sich seine Pfeifen, er redet nicht gern über sich, er sitzt tagelang am Ofen im Büro und schaut aus dem Fenster. Keine Affären, keine Abgründe, keine Schießereien. Er ist also sehr, sehr langweilig und kriegt sehr, sehr schlechte Laune, wenn er mal Paris verlassen muss. Aber er ist trotzdem die beste Kommissar-Figur, die es je gab. Und seine Fälle gehen unter die Haut.

Vor dem nächsten neuen Tatort am Sonntag nach der Sommerpause gruselt man sich nur insofern, als noch unklar ist, ob sich Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) mal wieder in die Hauptverdächtige verlieben und sein Innerstes nach außen kehren muss. Lieber Gott respektive liebe ARD: bitte nicht! Lasst ihn einfach einen deutschen Beamten, das Schauspiel gut und die Story intelligent sein. Man würde sich sonst sehr viel lieber Bikinis und Piaffen angucken.

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