Talkshow von Anne Will:Beckstein - "Einäugiger unter Blinden" im Fall Zschäpe

Lesezeit: 3 min

Die ARD-Talkrunde bei Anne Will zum NSU-Prozess wirft spannende Fragen auf. Leider wird aus sachlicher Diskussion pure Rechthaberei.

TV-Kritik von Carolin Gasteiger

Beate Zschäpe war schnell abgehakt. Was die Aussage der Angeklagten im NSU-Prozess angeht, war sich die Runde bei Anne Will einig.

Zschäpe hatte sich nach den 248 Verhandlungstagen zum ersten Mal geäußert und ihren Anwalt Mathias Grasel eine 50 Seiten lange Stellungnahme verlesen lassen. Sie fühle sich "moralisch schuldig", habe ansonsten aber nichts mit den Morden zu tun, die ihre beiden Freunde, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, verübt hätten. "Unlogisch, unglaubwürdig, jämmerlich", kommentiert SZ-Autorin Annette Ramelsberger die Aussage; die Angehörigen der Opfer zeigten sich enttäuscht.

"Nichts zur Aufklärung beigetragen"

Anne Wills Talkgäste an diesem Abend sehen das nicht anders. Spiegel-Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen nennt die Aussage eine Inszenierung, Nebenkläger-Anwalt Mehmet Daimagüler bezeichnet sie als "gruselig" und "ohne einen Hauch von Anteilnahme".

NSU-Morde
:Tatort Deutschland

Zehn Menschen sind gestorben, Dutzende wurden verletzt: 13 Jahre zog der NSU mordend durch Deutschland. Längst sind die Toten begraben, doch an den Tatorten haben die Menschen noch immer Angst. Zum NSU-Prozess hat die SZ diese Orte besucht. Eine interaktive Reise auf den Spuren des rechten Terrors.

Von Annette Ramelsberger (Text), Regina Schmeken und Jürgen Schrader (Fotos)

Dem ehemaligen bayerischen Innenminister und Ministerpräsidenten Günther Beckstein zufolge ist die Aussage unglaubwürdig und von den Anwälten konstruiert. Und Clemens Binninger, Vorsitzender des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag, ist der Ansicht, sie habe nichts zur Aufklärung beigetragen.

Wie die Anwesenden einander immer wieder versichern, sei die Aussage wie vorgefertigt gewesen und konträr zum bisherigen Bild, das Zeugen übereinstimmend von Zschäpe gezeichnet hatten - nämlich das einer taffen Frau, die sich durchsetzt und sehr genau weiß, was sie will. Selten war sich eine Talkrunde so einig.

Auch in dem Punkt, dass viele der Anschläge nur mit Hilfe von Ortskundigen verübt werden konnten und die Bundesanwaltschaft nachhaken müsse, ob es noch mehr Helfer gebe. Aber der Titel der Sendung hatte einen Nachsatz: "Die Zschäpe-Aussage - Werden die NSU-Taten aufgeklärt?" - und dieser Nachsatz brachte Pfeffer in die Diskussion.

An dem Punkt nämlich, wie die NSU-Morde bislang aufgeklärt wurden, scheiden sich die Geister. Vor allem die von Beckstein und Daimagüler.

Zschäpes Aussage
:"Ich fühle mich moralisch schuldig"

Beate Zschäpe lässt vor dem Gericht eine etwa 50 Seiten lange Erklärung verlesen - am Ende bleiben viele Fragen offen.

Von Oliver Das Gupta, Annette Ramelsberger und Tanjev Schultz

Beckstein, den kein anderer Fall in 14 Jahren als Innenminister mehr bewegt habe, betonte, es sei selbstverständlich, in alle Richtungen zu ermitteln. Der Nebenkläger-Anwalt widerspricht: Man habe den Rassismus als mögliches Motiv weggelassen und sich nur auf die Opferfamilien konzentriert. "Ein System, in dem ein türkisches Opfer nicht Opfer sein darf, sondern nur Täter, da kann doch etwas nicht richtig sein", so Daimagüler.

Unterschwelliger und unbewusster Rassismus

Von Clemens Binningers Verteidigung der bayerischen Beamten, die als Einzige in diese Richtung ermittelt hätten, aber abgebügelt worden seien, lässt sich Daimagüler wenig beeindrucken. Vielmehr verweist er auf das seiner Meinung nach wahre Problem, die Haltung in den Köpfen vieler Beamten - und macht damit ein neues Fass auf.

Aber ein sehr interessantes. Daimagüler geht es darum, wie Polizeibeamte unbedarft mit Sinti und Roma sprechen würden oder das N-Wort verwendeten. Diese gesellschaftliche Diskussion würden wir scheuen, meint er: "Das hat doch nichts mit Nestbeschmutzung zu tun."

NSU-Prozess
:Die zentralen Passagen aus Zschäpes Erklärung

Die Stellungnahme umfasst 53 Seiten. Eine Auswahl ihrer Aussagen zu den Morden, Sprengstoffanschlägen und dem Leben mit Böhnhardt und Mundlos.

Zusammengestellt von Oliver Das Gupta

Becksteins Bemühen, das Problem kleinzureden, sind vergeblich. Natürlich sei viel gemacht worden, aber eben auch vieles falsch. Daimagüler: "Herr Beckstein, Sie sind ein Einäugiger unter Blinden."

Wäre Anne Will an dieser Stelle doch nur näher auf diesen unterschwelligen und oft unbewussten Rassismus eingegangen. Ist dies doch ein Problem, das viele, wie Beckstein, gerne als harmlos abtun - nicht nur bei der Polizei. Aber Will lässt die Herren der Runde ihr Wortgefecht untereinander austragen. Auch Gisela Friedrichsen mischt sich kaum noch ein. Ihre sinnvollen Beiträge ("Zschäpe hat, was sie wollte. Und jetzt ist sie wieder nicht belastbar") verhallen.

Beckstein verliert sich in einer Verteidigung der Polizei

Und dann kommt auch noch das Interview. War Beckstein zu diesem Zeitpunkt schon mehrfach ins Stottern gekommen, auf das von Daimagüler angeführte Interview im rechtspopulistischen Magazin Compact ("Merkel? Verhaften!" - "Die Rothfront marschiert" - "Ami go home!") ist er wohl nicht vorbereitet. Darin soll sich der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, abfällig über das Frauenbild von Muslimen geäußert und damit genau jene Haltung an den Tag gelegt haben, die Daimagüler kritisiert.

Beckstein stellt sich umgehend mit deutlichen Worten hinter Wendt. "Herr Beckstein, Sie kennen das Interview gar nicht", sagt Daimagüler immer wieder, weil sein Gegenüber nicht nachgibt und sich stattdessen in einer Verteidigung der Polizei verliert. Es geht hin und her. Eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema wäre hilfreicher gewesen als sture Rechthaberei auf beiden Seiten.

Am Ende ist klar, dass es in der Aufklärung der NSU-Morde noch viel zu viele Unklarheiten gibt. Wahrscheinlich - und der Runde nach zu schließen - zu viele, um sie im NSU-Prozess zu klären. Aber definitiv zu viele für eine Ausgabe von "Anne Will".

Entscheidend sei es, so Beckstein, dass alles Menschenmögliche getan werde, um die NSU-Morde aufzuklären. Daimagülers ernüchterndes Schlusswort: lautet: "Herr Beckstein, ich würde Ihnen gern glauben, was Sie sagen, aber ich tu's nicht."

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