"Tagesschau" im neuen Studio:Vom Notfall zum Normalfall

Tagesschau ab 19. April aus neuem Studio

Sprecherin Caren Miosga im neuen Studio von Tagesschau und Tagesthemen.

(Foto: NDR/Thorsten Jander)

Mit dem neuen "Tagesschau"-Studio verabschiedet sich die ARD am Karsamstag von der Virtualität, und auch mit den Damen und Herren ohne Unterleib hinter ihrem wallhaften Tisch ist es vorbei. Dennoch birgt das neue Studio eine Gefahr.

Von Gerhard Matzig

Claus-Erich Boetzkes ist ein höflicher Mensch, der seinen Spitznamen "Professor Tagesschau" mit ironisch grundiertem Feinsinn zu tragen weiß. Überdies trägt er ihn auch zu Recht, den Titel, denn vor zweieinhalb Jahren wurde der ARD-Moderator zum Honorarprofessor an die TU Ilmenau berufen.

Was er aber jetzt gerade trägt, in Hamburg, nicht in Ilmenau, bekleidungs- statt titeltechnisch, im für knapp 24 Millionen Euro auf 320 Quadratmetern neu gestalteten ARD-Nachrichtenstudio nämlich, das am kommenden Karsamstag um 20 Uhr nach Jahren der Geheimniskrämerei in Betrieb genommen wird . . . tja, ist es Ironie? (Denn der neue Boden im sonst so futuristisch anmutenden Studio-Design ist aus Ahorn - verlegt als klassisches Schiffsparkett.) Ist es naturgegebene Hanseartigkeit? (Denn in Hamburg ist alles, was man auch an Bord tragen kann, gesellschaftsfähig.) Oder ist es ein letztes Aufbegehren gegen die Zeitläufte und ihre Neuerungssucht? (Denn von Samstag an ist es vorbei mit den Damen und Herren ohne Unterleib, die unterhalb der Gürtellinie beziehungsweise der Schreibtischoberkante bislang blickdicht beschützt wurden von einem wallhaft aufragenden Tischmöbel.)

Aus Nachrichten wird jetzt ganz großes Kino. Das ist vielleicht die Gefahr dabei

Jedenfalls: Prof. Boetzkes trägt dieses eine Mal noch Schuhe, "Timbis", die man - fern der textil- und auch sonst hochseriösen Tagesschau - nur als unbekümmert beschreiben kann. Selbst für Ilmenauer Verhältnisse. Er trägt den Classic Boat Shoe von Timberland. In Braun. Glattleder. Dazu eine Jeans. Salopp. Formvollendet dagegen hält Boetzkes dem Reporter die Tür auf. Dienstag, kurz nach 16 Uhr. Man darf das neue Studio besichtigen, anfassen, begreifen. Also ein brennendes Geheimnis enthüllen, vielleicht das brennende Geheimnis schlechthin in der Nachrichtenwelt - wenn man mal von der Frage absieht, was eigentlich Eva Herman so macht. Boetzkes hat soeben eine Nachmittags-Ausgabe der Tagesschau moderiert. Im Probebetrieb. Man befindet sich im Gebäude 18 der ARD-Nachrichtenzentrale beim NDR in Hamburg-Lokstedt. Dort, wo früher ein sogenanntes Havariestudio für Notfälle als Raumreserve bereitstand.

Die Havarie wurde jetzt aufgehübscht. Chic ist sie geworden. Und aus dem Notfall, aus dem ein Probefall wurde, wird nun der Ernstfall. Womit unser Leben einen neuen Look bekommt. Schließlich geht es nicht nur um ein Nachrichtenstudio. Wenn die Tagesschau als älteste noch bestehende Nachrichtensendung im deutschen Fernsehen (seit 1952, damals gab es knapp 10 000 Fernsehgeräte) ihr Wohnzimmer umräumt, dann verändern sich auch die Wohnzimmer-Blicke von mittlerweile 8,87 Millionen Zuschauern, die täglich zuschalten. Die Tagesschau ist allgemeines Kulturgut. Steht quasi unter Denkmalschutz.

Wenn es am Samstag um 20 Uhr wieder "Guten Abend" heißt, dann wird das grundsätzlich immer noch vertraut klingen. Jedenfalls in akustischer Hinsicht, denn der Sound der Tagesschau-Fanfare wurde nur etwas runderneuert. Im Gegensatz übrigens zur deutlich aufgeblasenen Tagesthemen-Melodie, die sich anhört, als versuchten die Tagesthemen auch dann ein Hollywood-Blockbuster von Roland Emmerich zu sein, wenn es nicht um die Bedrohung der Welt, sondern nur um die Große Koalition geht - selbst wenn man einwenden mag, das sei das gleiche. Aussehen aber werden die ARD-Nachrichten noch einen Tick fremder. Erst mal. Man wird sich jedoch schnell daran gewöhnen. In der Geschichte der Tagesschau gab es immer die Evolution der Formen. Kann sich eigentlich noch jemand an den transparenten Tagesschau-Schriftzug mit hell-goldfarbenen Rand erinnern? Von Mitte der 1990er-Jahre? Oder an die Weltkarte aus dicken Punkten? Eben.

"So etwas gibt es nirgendwo sonst"

Boetzkes führt durch die Ex-Havarie. Dabei ist auch Kai Gniffke, Chefredakteur von ARD-aktuell. Sowie Georg Grommes, der eigentliche Erfinder des neuen Studios, von dem er stolz sagt: "So etwas gibt es nirgendwo sonst." Großer Satz. Man fragt sich, ob es in Zukunft darin überhaupt noch Platz geben kann für Kleinigkeiten. Für hübsche Details. Eine Mitarbeiterin befreit Boetzkes nach seiner Moderation von ein paar Klammern, die sein Sakko-Rückenteil gestrafft haben, weshalb der ARDler für einen Augenblick nicht nur wie der ohnehin straffe Boetzkes aussieht, sondern sympathischerweise auch an eine Schaufensterpuppe denken lässt. Was immer zum neuen Ambiente zu sagen ist: Solche Szenen wird es nicht mehr geben. Segelschuhe und Jeans unten, dafür geklammertes Sakko und Krawatte oben: vorbei.

Die Moderatoren und Sprecher der vielen Tagesschau-Ausgaben, der Tagesthemen, des Nachtmagazins und der Digital-Sendungen von tagesschau24 werden ganz zu sehen sein; sie werden räumlich agieren wie auf einer Bühne - und zwar zwischen zwei organisch gerundeten, dynamisch sich nach unten verjüngenden Tischen in Flügelform einerseits und der 18 Meter langen Panorama-Medienwand andererseits, die, unterstützt von sieben Beamern, Bilder wie im 3-D-Kino liefern kann.

Die Münchner Firma Billionpoints, die man als Entwurfsverfasserin des neuen Studios schon deshalb nennen sollte, weil die ARD (genau wie das ZDF und alle anderen) leider immer auf die Nennung von Architekten und Gestaltern verzichtet, Billionpoints also ist bekannt für Studio-Architekturen. Jürgen Bieling, 48 Jahre alt und Chef der kleinen Münchner Firma, hat schon Al-Jazeera in Doha ausgestattet, ein Studio in Kairo entwickelt - und auch das Set für CCTV in Peking entworfen, das demnächst zu sehen sein wird. Lustigerweise stammt auch der merkwürdige ZDF-Tisch, Sofalandschaft und Einbaum-Konstruktion in einem, von Billionpoints.

Lustig ist das deshalb, weil die ARD erst mal die Mainzer Kollegen fragen musste, ob es was ausmache, wenn man nun den gleichen Designer . . . nein? . . . und weil man dann dem ZDF-Einbaum-Erfinder sagte, er solle genau das Gegenteil entwerfen. Das ARD-Studio solle dem vom ZDF "diametral", so Bieling, entgegenstehen. Das ist auch so. Und das ist gut so.

Was nicht nur an dem Lerchenberg-Einbaum liegt, der erstens so sehr nach angesagtem Bio-Öko-Manufactum-Holz aussieht, wie das die Möbelmessen schon seit 20 Jahren tun, und den man sich zweitens mitsamt Marietta Slomka gut als Exponat der außereuropäischen Sammlungen im Humboldtforum vorstellen kann. Vor allem liegt es auch daran, dass das ZDF-Studio ein virtuelles Studio ist, also eines, in dem die Bildfreistellung verwendet wird. Das ist ein Verfahren, das es ermöglicht, Personen nachträglich vor einen Bild-Hintergrund zu setzen. Im Film Und täglich grüßt das Murmeltier gibt es eine Szene mit Bill Murray und Andie MacDowell, die den Nachteil virtueller Studios illustriert: Moderatoren, die sich in einem nahezu leeren, bildlosen Studio bewegen, wirken oft etwas nebulös, ja bisweilen unscharf. Das gilt sogar für den großartig kantigen Claus Kleber, dem man bei aller Virtuosität auch etwas mehr Nichtvirtualität wünscht.

Zamperoni-taugliches Amöben-Möbel

Von der Virtualität, und das ist tatsächlich eine kleine Revolution, verabschiedet sich nun die ARD. Entlang der gigantischen Medienwand können die Moderatoren in Zukunft zu und über die Bilder sprechen. Das heißt aber auch: Bilder werden noch wichtiger. Noch gesprächiger. Und wenn sie bislang schon mehr als tausend Worte sagten, so wird ihre Botschaft in Zukunft noch umfassender sein. Nebenwirkung: Emotionalisierung. Was die Ankerfrauen und Ankermänner vom Ersten dann noch zurückhaltend an ihrem schmucken, in der Höhe verstellbaren, Zamperoni-tauglichen Amöben-Möbel sagen, könnte dann zweitrangig werden. Darin liegt eine Gefahr: Dass aus den Nachrichten ganz großes Kino wird.

Gut vielleicht, dass die neuen Tische etwas nach Feierabend-Lounge aussehen - und aus einem bestimmten Winkel von vorne an die freistehende Humoresken-Badewanne des Tebartz-van Elst erinnern. Das lindert manch dramaturgische Wucht.

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