Streit um Territorialprinzip:Standortfrage

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Die EU möchte den grenzüberschreitenden Zugriff auf Mediatheken von TV-Sendern erleichtern. Die Befürworter sehen die europäische Idee gestärkt, die Filmwirtschaft bangt um ihr Geschäftsmodell.

Von Karoline Meta Beisel

Die EU hat zuletzt einiges getan, um den Verbrauchern die Sommerferien zu verschönern. Erst vor ein paar Tagen wurden die teuren Roaminggebühren fürs Handy abgeschafft; schon im Mai verabschiedete das Parlament das hübsches Regelwerk mit dem hässlichen Namen Portabilitätsverordnung: Sie erlaubt es Europäern, ihre Lieblingsserie bei Netflix oder Sky auch im Spanien-Urlaub anzusehen, was durch das Geoblocking vorher oft schwierig war. Als nächstes will die EU auch den grenzüberschreitenden Zugriff auf die Mediatheken der herkömmlichen Fernsehsender erleichtern. Wenn der Plan umgesetzt wird, dürfte die Meldung "Dieser Inhalt ist in Ihrem Land nicht verfügbar" künftig deutlich seltener zu sehen sein. Aber ob das für die Verbraucher wirklich eine gute Nachricht ist oder doch eher eine schlechte, darüber gehen die Meinungen weit auseinander.

Die Reform würde dazu führen, dass Sender die Online-Rechte für eine Sendung nur noch für das Land klären müssten, in dem sie den Inhalt auch veröffentlichen wollen, und sich nicht mehr darum kümmern müssen, wenn auch Zuschauer aus anderen Ländern zusehen wollen, für die sie die Rechte eben nicht erworben haben. Die Argumente für und gegen diese Neuerung, um die dieser Tage aufs Heftigste gestritten wird, sind aber auf beiden Seiten plausibel. Die Befürworter sehen den europäischen Gedanken auf ihrer Seite, den free flow of information, die schrankenlose Kommunikation und die weitere Verwirklichung des digitalen Binnenmarkts. Die Gegner berufen sich auf einen Mann mit gelben Zähnen und schlecht sitzender Perücke: Toni Erdmann.

Das Vorhaben der EU gefährde das Geschäftsmodell der europäischen Filmwirtschaft, argumentieren die Gegner. Die Vielfalt in Europa würde durch das Vorhaben auch nicht größer, sondern sogar kleiner: Filme wie Toni Erdmann von Maren Ade wären nach dem neuen Modell nicht mehr zu finanzieren, befürchten sie. Zuletzt hat dieses Beispiel vor ein paar Tagen der Regierende Bürgermeister der Filmstadt Berlin bemüht, Michael Müller.

Die Filmbranche sieht das Territorialprinzip in Gefahr, wonach die Rechte für einen Film oder eine Serie länderweise vergeben und auch vergütet werden. 20 oder gar 30 Prozent des Budgets könnten die internationalen Lizenzverkäufe ausmachen, heißt es aus der Branche. "Es geht um die Grundfesten unseres Geschäftsmodells", sagt Michael Polle von der Produktionsfirma X-Filme. Offiziell geht es bei dem EU-Vorhaben zwar nur um die Online-Rechte. Die reichten aber aus, um das ganze System in Frage zu stellen, erklärt Alfred Holighaus, der Präsident der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO): "Wenn ich am Ende Rechte verschenke, sind die Rechte am Anfang weniger wert", sagt er.

Die Rechtevergabe entlang von Staatsgrenzen wäre noch möglich, aber nicht mehr der Normalfall

Technisch werden die für die Finanzierung so wichtigen Exklusivitätsvereinbarungen per Geoblocking umgesetzt. Wenn die EU sich durchsetzt, würde das Geoblocking zwar nicht völlig verschwinden. Die hässlichen Fehlermeldungen würden aber wohl seltener werden. Und das, obwohl die EU auf die Online-Rechte eine Regel anwenden möchte, die älter ist als die Mediatheken: das sogenannte Herkunftslandprinzip aus der Kabel- und Satellitenrichtlinie aus dem Jahr 1993. Die Regel wurde damals eingeführt, weil Satellitensignale eben nicht an Ländergrenzen haltmachen.

Das soll künftig also auch für das Internet gelten. Das ZDF, das zu den stärksten Befürwortern der Reform gehört, gibt etwa an, dass für eine 30-minütige Serienfolge derzeit bis zu 100 einzelne Verträge geschlossen werden müssten, insgesamt mehr als 70 000 im Jahr. Ein enormer Aufwand. Kein Wunder, dass es für Sender, die Produktionen in Auftrag geben, bequemer wäre, wenn künftig wenigstens die Verträge fürs Ausland wegfallen würden.

Vertreter der Filmindustrie fürchten aber, dass dann auch weniger Geld an die Urheber fließt. In mehreren offenen Briefen haben sie ihren Unmut kundgetan, und dann auch noch in einem, der zwar erst nicht offen war, dann aber vom Webmagazin Politico veröffentlicht wurde. Darin wirft Holighaus dem im Rechtsausschuss des Parlaments zuständigen Berichterstatter gar vor, sich zum "Totengräber einer lebendigen und im Wachstum begriffenen Industrie" zu machen. All das, was die Verordnung vorsehe, vor allem die europaweite Verfügbarkeit der Inhalte, ließe sich auch jetzt schon vertraglich vereinbaren - man müsse nur bereit sein, dafür zu zahlen. Manche vermuten sowieso, dass es bei dem Vorhaben vor allem darum geht, die Position der Öffentlich-Rechtlichen zu stärken. Mit Blick auf das junge Publikum sei es für sie wichtig, ihre Inhalte im Netz grenzüberschreitend anzubieten, heißt es in einer Begründung zu dem Entwurf: "Anderenfalls könnte ihre Existenzberechtigung in Zukunft in Frage gestellt werden."

Befürworter des Vorhabens weisen die Kritik zurück. So sei die Rechtevergabe entlang von Ländergrenzen weiter möglich, nur eben nicht mehr der vom Gesetz vorgesehene Normalfall. Die Vertragsfreiheit werde nicht angetastet, sagt etwa Julia Reda von der Piratenpartei, die im Rechtsausschuss mit der Sache befasst ist: "Theoretisch könnte ein Produzent auch verlangen, dass ein Film nur montags zugänglich gemacht werden kann, oder nur für 100 Zuschauer." Peter Weber, der Justiziar des ZDF, sagt, dass man auch künftig "notwendige vertragliche Verpflichtungen zum Geoblocking akzeptieren" werde.

Die Kritiker beruhigt das nicht: Die Auftraggeber von Film- und Fernsehproduktionen hätten die stärkere Verhandlungsposition und könnten die Freigabe der Rechte einfach verlangen, heißt es zum Beispiel in einem offenen Brief, den 411 Branchenvertreter aus ganz Europa unterzeichnet haben. Darin wird noch eine andere Sorge angesprochen: In einem Verfahren gegen den Paysender Sky und mehrere große Hollywood-Studios ist das Geoblocking derzeit auch ein wettbewerbsrechtliches Thema.

Aber auch die Fürsprecher haben noch weitere Argumente auf ihrer Seite. Julia Reda sagt, die Filmindustrie könnte wegen des nach der Neuregelung größeren Publikums mit steigenden Lizenzgebühren rechnen. Um die auch durchzusetzen, sieht der jüngste Entwurf für die Verordnung einen einklagbaren Anspruch darauf vor, dass diese zusätzlichen Gebühren transparent ausgewiesen werden müssen.

Zum anderen könnte die Filmindustrie auch an anderer Stelle hinzuverdienen. Reda verweist auf eine Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Europaparlaments, der zufolge viele Zuschauer bereit wären, für Filme und Serien zu bezahlen, insgesamt bis zu 945 Millionen Euro im Jahr: "Im Schnitt wird ein in Europa produzierter Film nur in zwei oder drei Mitgliedsstaaten zum Abruf angeboten, US-Produktionen im Schnitt in sieben Ländern", sagt sie. Wer sich für fremdsprachige Inhalte interessiere - sei es weil er in einem anderen Land lebt oder weil er eine Sprache lernt - habe derzeit kaum Möglichkeiten, legal Filme und Serien anzusehen. "Der Status Quo begünstigt Firmen wie Netflix, die es sich leisten können, mehrere Sprachfassungen zu produzieren", sagt sie.

In dieser Woche gibt der Kulturausschuss des Europäischen Parlaments seine Stellungnahme ab, im September folgt der Rechtsausschuss. Danach muss aber auch noch das Plenum über den Vorschlag beraten. Sollte irgendjemand den Urlaub am liebsten vor dem Fernseher verbringen: Die eigene Wohnung bleibt dafür bis auf weiteres das beste Ziel.

© SZ vom 19.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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