Serie: Wozu noch Journalismus? (8):Die öffentlichen Vordenker

Ohne Journalismus löst sich die Presse in Nichts auf. Aber wir brauchen ihn als Reflexionsinstanz, zur Aufklärung und für unser soziales Zusammenleben.

Volker Lilienthal

Wozu noch Journalismus? Die Ethik der Medienmacher ist in Gefahr: Journalisten werden zu Handlangern der Politiker, bloggen im Netz und werden durch Laien ersetzt. Wie ist der Journalismus zu retten - und wieso sollten wir das überhaupt tun? In dieser Serie - herausgegeben von Stephan Weichert und Leif Kramp - setzen sich angesehene Publizisten auf sueddeutsche.de mit dieser Frage auseinander. Diesmal schreibt der Journalismus-Professor Volker Lilienthal.

Foto: dpa, AP, Grafik: sueddeutsche.de

Was, wenn es keinen Journalismus mehr gäbe?

(Foto: Foto: dpa, AP, Grafik: sueddeutsche.de)

Lassen wir uns für einen Moment auf den Gedanken ein, es gäbe keinen Journalismus mehr. Weil niemand mehr dafür bezahlte oder weil eine Neue Diktatur jegliche unabhängige Informationssammlung und Meinungsäußerung verböte. Radio und Fernsehen hätten dann noch die besten Überlebenschancen.

Aber: Das Radio bestünde aus nichts mehr als endlosen Musikteppichen, hin und wieder unterbrochen von Titelansagen, Verkehrsberichten oder Plaudereien, die unterhaltsam sein sollen, aber bestimmt nicht journalistisch sind. Verlässliche Nachrichten zur vollen Stunde? Vorbei und vergessen. Das Fernsehen füllte seine Sendestrecken rund um die Uhr mit Fiction und Shows - Drama hoch drei also und das beständige Allotria des Amüsements.

Zensoren einer Neuen Diktatur

All diese Zutaten können theoretisch-technisch auch das Internet von morgen bereichern. Aber bestückt mit Musik und Movies ist das Netz eben bestenfalls eine technische Verbreitungsplattform - kein eigenständiges Medium. So würde sich die inhaltliche Verarmung, die unserem Gedankenexperiment zugrunde liegt, vor allem im Internet zeigen. Sein Content bestünde weitestgehend nur noch aus Online-Kommerz und Social Communities.

Selbst ob die sehr individuellen und unberechenbaren Meinungsäußerungen von Bloggern zugelassen werden, obwohl sie doch das aufklärerische Potential von Quasi-Journalismus beinhalten, müssten sich die Zensoren der Neuen Diktatur noch sehr gut überlegen.

Brecht'sche "Annoncenplantage"

Bleibt noch das, was heute hässlich-neudeutsch "Printmedien" genannt wird. Zeitungen und Zeitschriften also, die werden nicht mal als Brecht'sche "Annoncenplantage" überleben. Denn wer wollte noch Anzeigen betrachten, wenn zwischen ihnen nicht immer wieder auch Geistesnahrung geboten würde!?

Ohne Journalismus, ohne Meldungen, Berichte, Reportagen und Kommentare, löst sich die Presse in Nichts auf. Die Zeitung würde vollständig unverkäuflich, sie hätte ihren Sinn verloren, sowohl als Träger- wie auch als Inhaltemedium.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was uns wirklich fehlen würde.

Innenansichten aus fremden Welten

Träte diese Entwicklung ein, was würde uns fehlen? Zuallererst und ganz basal: die Orientierung über das Tagesgeschehen, wie sie in Nachrichten geboten wird. Dann, schon weitergehend, die medial vermittelte Augenzeugenschaft, wie sie uns die "Nachricht im Film", die Fernsehreportage und das Webvideo bieten, der analytische Hintergrundbericht, für den ein Journalist einige Stunden lang recherchiert und sich den Kopf zerbrochen hat, der Kommentar zum politischen Zeitgeschehen, der notwendige Kritik liefert und - für uns aller Meinungsbildung als Staats- und Wahlbürger - öffentliches Vordenken praktiziert.

Volker Lilienthal, Foto: oh

Ohne Journalismus löst sich die Presse im Nichts auf - Volker Lilienthal

(Foto: Foto: dpa)

Es würden fehlen: überfällige Enthüllungen von offensichtlichen Skandalen und von schleichenden, noch unentdeckten Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft. Es würde der Blick auf das andere und Fremde fehlen, all die hochinteressanten Auslandsberichte, Innenansichten aus fremden, oft auch gefährlichen Welten, zu denen uns erst mutige Journalisten den Zugang verschaffen.

Dialog zwischen Journalisten und Adressaten

Nicht zuletzt würde uns die Unterhaltsamkeit fehlen, die gutem Journalismus eigen ist: die Lust des Lesers (und Hörers) an gutem Stil, an frecher Kritik, an geistreicher Interpretation von vorgefundener Wirklichkeit.

Dem Mediennutzer würde auch der Ärger fehlen, den Journalismus hin und wieder notwendig auch bei ihm persönlich auslöst - etwas, an dem man sich reiben und abarbeiten kann, in Form eines Leserbriefes oder, mehr und mehr, in Form eines Online-Kommentars. Publikumsforen, wie sie dank des Internets möglich sind, intensivieren den Dialog zwischen Journalisten und ihren Adressaten und sie entfalten auf Dauer einen Legitimationszwang für die Medien, der für Journalisten oft unbequem sein mag, der aber tendenziell zur Selbstoptimierung der Medien in Richtung von mehr Qualität beitragen kann.

Das alles zeigt: Bei der Frage "Wozu noch Journalismus?" geht es nicht primär um das Eigeninteresse traditioneller Institutionen wie der Medien, von Journalisten, die schlicht überleben wollen. Es geht um unser aller Weltwissen, um unsere Aufklärung, um die Bereicherung unseres Denkens und, ja, auch Fühlens. Es geht darum, ob unser Bewusstsein von Welt arm oder reich ist, ob wir beweglich bleiben im Denken und Handeln, es geht also nicht zuletzt um unsere je persönlichen Lebenschancen. Denn die werden nicht nur, aber auch doch wesentlich, durch moderne Qualitätsmedien verbessert. Niemand kann in hochanspruchsvollen Berufen überleben, der nicht ein Minimum von der ihn umgebenden Welt verstanden hat.

Die negative Gedankenskizze zeigt, wofür wir Journalismus positiv und auf unabsehbare Zeit noch brauchen. Wir brauchen ihn als eine Reflexionsinstanz, als einen beharrlichen Prozess permanenter Aufklärung, als ein öffentliches Bemühen um Erkennen und Verstehen, als eine konzertierte Aktion, die unser je individuelles Leben bereichert, die uns schlauer macht, die aber auch unser Zusammenleben in Gesellschaft nachhaltig zivilisiert und optimiert.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Engagement das verbindende Element ist.

Medien als Steuerungsinstanz

Freie Gesellschaften brauchen unabhängigen Journalismus zur Selbststeuerung, zur Lokalisierung und Korrektur von Problemen, die den Idealen dieser Gesellschaft zuwiderlaufen. Selbst Politiker, deren Verhältnis zum kritischen Journalismus bekanntermaßen nicht spannungsfrei ist, sollen ja gelegentlich dankbar sein für den einen oder anderen Fingerzeig auf etwas, worum sich Politik kümmern sollte.

Medien mit dem Spirit und der Praxis von gutem Journalismus werden also gebraucht als Steuerungsinstanz, die permanent und öffentlich den Appell artikuliert, Lebensverhältnisse zu verbessern. Adressaten dieses Räsonnements, dieses Appells sind Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Kultur - und wir alle. Es gibt einige Anzeichen, wonach Journalisten international momentan zu mehr Engagement in diesem Sinne tendieren. Mehrere deutsche Stimmen ließen sich dafür anführen, doch sollen hier zwei aus dem angloamerikanischen Bereich zitiert werden.

Politisches Engagement

Der Londoner Zeitschriftenmacher Tyler Brûlé sagte jüngst in einem Zeit-Interview: "Einige Medien müssen die Initiative ergreifen und das Denken der Menschen fokussieren, herausstellen, was die entscheidenden Themen und Debatten sind." In eine ähnliche Richtung zielte der amerikanische Medienexperte Dan Gillmor, als er Anfang Oktober auf guardian.co.uk new rules of news aufstellte.

In Punkt 17 dieser Regeln forderte er Journalisten zu direktem (politischem) Engagement auf: "Je wichtiger wir ein Thema für unsere Zielgruppe erachten, desto hartnäckiger bleiben wir am Ball. Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass eine bestimmte Regelung oder Praxis gefährlich ist, versuchen wir, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Das bedeutet, dass man laut und deutlich vor der Immobilienblase hätte warnen müssen."

Neujustierung des Journalismus

Engagement ist ein verbindendes Element dieser beiden Ansagen für die notwendige Neujustierung eines Journalismus, der Relevanz beweisen und wirkmächtig sein will. Dem Sinne nach gibt es aber noch ein zweites Element, und das heißt: Integration des Ganzen. Denn in einer gesellschaftlichen Situation,

- in der immer mehr soziale Entwicklungen auseinanderlaufen, in der Politik zwar partiell noch entscheidet und (über Gesetze) steuert, aber immer weniger als moralische Autorität akzeptiert wird,

- in der immer weniger Bürger bereit sind, sich für das Gemeinwesen zu engagieren, in der immer mehr junge Menschen sogar als gelegentliche Wahlbürger verlorengehen,

- in der die Wissenschaften den Erkenntnisfortschritt zwar vorantreiben, dabei aber immer spezialistischer werden und Folgen für das System (die Weltgesellschaft) oft übersehen werden,

braucht es Medien im Sinne einer Vermittlungsinstanz, die auseinanderbrechende Tendenzen neu zusammenbindet, die dolmetscht zwischen gegensätzlichen Interessen (Arbeit/Kapital), zwischen Bevölkerungsgruppen, die sich fremd geworden sind (Jung/Alt), die möglichst viele aus dem dispersen Publikum interessiert für gemeinsame Belange, die alle angehen, braucht es Wissensspeicher und appellative Instanzen, die vielleicht sogar neue Begeisterung für scheinbar altertümliche Werte wie Demokratie und Bürgersinn entfachen können.

Was mediengeschichtlich zum Auftrag für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk erklärt wurde, nämlich zur gesellschaftlichen Integration beizutragen, wird ein kategorischer Imperativ für alle Medien, auch für die privatwirtschaftlich organisierten. Um nicht missverstanden zu werden: Nicht Anpassung ist damit gemeint, nicht Affirmation der "Deutschland AG", wohl aber ein begründetes Engagement für bestimmte Werte und wahrgenommene Verantwortung für eine Zukunft in Freiheit.

Volker Lilienthal, Jahrgang 1959, ist Professor für Praxis des Qualitätsjournalismus an der Universität Hamburg und arbeitete zuvor nach dem Berufsstart beim Medienmagazin Copy, dann 20 Jahre lang beim Fachnachrichtendienst epd Medien.

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