Serie "Frankenstein Chronicles":Der Bedarf an Menschenleichen in den "Frankenstein Chronicles" ist hoch

"Frankenstein Chronicles" auf TNT

Inspector John Marlott (Sean Bean, Mitte) braucht einen Hut, um im London des frühen 19. Jahrhunderts sicher zu sein.

(Foto: ITV)

Metzger, Chirurgen und Bodysnatcher machen sich in der britischen Serie an ihnen zu schaffen.

TV-Kritik von Bernd Graff

Man muss neuerdings über Männerhüte reden. Denn Fernsehserien sorgen inzwischen für die Rehabilitierung des Kopfdeckels. Das war beim Drogendealer Heisenberg in Breaking Bad so und ist jetzt wieder der Fall bei Inspector John Marlott im London des Jahres 1827, den der verdienstvolle Sean Bean verkörpert, einst Ned Stark in Game of Thrones.

Bean ist hier nur an der professionellen Oberfläche souverän, darunter ist er ein Gezeichneter, einer, der schon ganz nah dran gewesen sein muss an seinem persönlichen Ende. Er wird als ehemaliger Soldat vorgestellt, der in Waterloo mit Wellington gegen Napoleon gekämpft hat. Dazu, man erfährt erst nicht genau wie und warum, hat er noch die geliebte Frau und das Kind verloren. Zudem bricht eine alte Syphilis-Erkrankung wieder durch. Mit anderen Worten: der Inspektor ist ein Lebensgetroffener, also ein cooler Hund. Das muss er auch sein.

Denn dieses London des frühen 19. Jahrhunderts ist ein verkommener Ort fürchterlichster Armut, des Siechtums, des vorindustriellen Proletariats, der Kriminalität und Korruption, des Suffs wie härterer Drogen - und der brutalsten Morde. Gleich zu Beginn, hier noch ohne Hut, findet Marlott am Themse-Ufer bei einer nächtlichen Razzia eine grässlich entstellte Kinderleiche. Das heißt: Es ist nicht die Leiche eines Kindes, sondern ein aus Körperteilen von acht verschiedenen Kindern grob zusammengenähtes Kompositum als Leiche. Die Herren Vorgesetzten sind totally shocked und müssen sich entweder gleich übergeben oder mit Spitzentaschentüchlein die Näschen bedecken, um es nicht zu tun.

Sind das die Atemwölkchen des Winters - oder ist das der Hauch des Todes?

In dieser sozialdarwinistischen Welt, die dringend jene Reformen bräuchte, die Charles Dickens einforderte, scheint es einen großen Bedarf an Menschenleichen zu geben. Denn jeder: Metzger, Chirurg, Bodysnatcher macht sich an ihnen zu schaffen. Frische Gräber werden geplündert, die Toten der Armen werden einer Wissenschaft überschrieben, die hier, und das macht die Serie wunderbar deutlich, noch nicht die einzig gültige Sphäre für Erkenntnis ist, sondern sich in Konkurrenz mit Religion, Mystik, Alchemie und reinem Spinnertum befindet. So ist im britischen Parlament eine Kontroverse zwischen den jungen Naturwissenschaftlern und den sogenannten Resurrektionisten entbrannt, dies sind bibelfromme Christen, die am Jüngsten Tag nur unversehrte, nicht kunstvoll filetierte Körper in den Himmel auferstehen sehen wollen.

Und dagegen hat der Innenminister Sir Robert Peel (Tom Ward) einen Gesetzesentwurf eingebracht, der den Wissenschaftsbedarf an Leibern per Verordnung decken soll. Diesen Robert Peel gab es wirklich, er gilt als Begründer der Konservativen Partei. Genauso gab es zwei weitere Nebenfiguren: Die Schriftsteller William Blake (dessen mystische Spinnereien Hinweise zum Verschwinden eines Mädchens liefern sollen) und Mary Shelley. Letztere hat das Buch Frankenstein oder Der moderne Prometheus verfasst, das unter anderem durch die Experimente des Italieners Luigi Galvani angeregt war, der zu dieser Zeit Stromstöße durch Menschenleichen jagte, um an ihnen Muskelbewegungen auszulösen. Auch ein solches Galvani-Experiment wird in der Miniserie (nur sechs Folgen) durchgeführt. Die Serie ist keine Literaturverfilmung, stattdessen wird Marlott das Shelley-Werk als Hinweis zugespielt.

So sind diese knochentief britischen Chronicles unter der Regie von Benjamin Ross also keine Horrormärchen mit müde wankenden Homunculi, die Schrauben in Hals und Schädel haben, sondern eisige Ermittlungen an der Schwelle zur Moderne, in denen die Figuren sogar in Innenräumen die Atemwölkchen des Winters vor dem Mund haben - oder den Hauch des Todes. Kein Wunder also, dass Sean Bean seinen formidablen Filzhut fast nie absetzt: Nur damit ist er behütet.

Frankenstein Chronicles, TNT Serie, dienstags, 20.15 Uhr.

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