Sächsische Zeitung:Deutsche und andere Ganoven

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Die "Sächsische Zeitung" benennt neuerdings die Nationalität aller Kriminellen und widersetzt sich dem Pressekodex. Was bedeutet das für das Blatt?

Von Karoline Meta Beisel und Cornelius Pollmer, Dresden

Am Dienstag vergangener Woche wurde in Dresden an der Haltestelle Amalie-Dietrich-Platz ein Heranwachsender überfallen. Der mit einem Messer bewaffnete Täter konnte fliehen, er sprach "Deutsch mit ostdeutschem Akzent". Einen Tag später überfielen "zwei bewaffnete Unbekannte" einen Supermarkt in Nossen, Landkreis Meißen. Am Montag dieser Woche wiederum stellte ein Mieter im Dresdner Stadtteil Cotta im Morgengrauen einen Täter, der durch das offene Fenster der Erdgeschosswohnung bereits Kopfhörer und eine Brille gefischt hatte: "Der Dieb, ein 32-jähriger Tunesier, sitzt nun in Untersuchungshaft."

Über all diese Vorfälle ist in der Sächsischen Zeitung berichtet worden, und zwar anders, als dies noch im Juni geschehen wäre. In der Ausgabe vom 2. Juli druckte die Regionalzeitung einen Text in eigener Sache, Überschrift "Fakten gegen Gerüchte", Vorspann: "Warum die Sächsische Zeitung künftig die Nationalität von Straftätern immer nennen wird. Egal, ob es sich um Deutsche oder um Ausländer handelt." Wenn noch nicht klar ist, woher jemand kommt, ist schlicht von Unbekannten die Rede.

Für diesen Schritt hat sich auf den Fluren im Haus der Presse am Dresdner Elbufer ein schöner Begriff gefunden: "ziviler Ungehorsam". Der Ungehorsam besteht nun darin, dass der Pressekodex für die Berichterstattung über Straftaten eigentlich ein anderes Verhalten vorsieht: "In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht", heißt es dort in Ziffer 12.1.

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Journalisten dürfen bei Straftaten nur in begründeten Fällen die Nationalität der Beteiligten nennen. Nach Köln gibt es an dieser Praxis heftige Kritik - die Richtlinie steht zur Diskussion.

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Nach den Vorfällen der Silvesternacht in Köln hatte es eine heftige Debatte darüber gegeben, was das eigentlich ist, ein "begründbarer Sachbezug", und ob man die Regel nicht konkretisieren oder sogar ganz abschaffen sollte. Mehrere Chefredakteure, etwa Tanit Koch von der Bild oder Rolf Seelheim von der Oldenburger Nordwest-Zeitung hatten den Passus scharf kritisiert, von "Selbstzensur" war die Rede und von "Wortkosmetik". Im März hatte sich der Presserat, das Selbstkontrollorgan der Presse, dann aber dagegen entschieden, an der Formulierung herumzuwerkeln. Zwar arbeitet der Presserat jetzt an Leitlinien, die den Redaktionen die Handhabung von Ziffer 12 erleichtern sollen; im Herbst sollen sie fertig sein. Die Formulierung im Kodex aber blieb unverändert.

Träger des Presserats sind die Verleger- und Journalistenverbände, die einzelnen Verlage unterwerfen sich dem Kodex per Selbstverpflichtungserklärung. Die darin enthaltenen publizistischen Grundsätze haben also keinen Gesetzesrang; wer sie verletzt, ist streng genommen nicht einmal verpflichtet, eine daraufhin ergangene Rüge abzudrucken. Trotzdem gilt, was im Kodex steht, als journalistischer Standard, fast alle Medien halten sich daran. Wenn die Sächsische Zeitung nun also stets die Nationalität eines Täters nennt, ohne einen "Sachbezug" zu suchen, widersetzt sie sich diesen Standards.

Als zivil betrachten sie bei der Sächsischen Zeitung diesen Ungehorsam, weil es nicht um einen Verstoß aus Prinzip oder übler Laune oder Denunziationslust heraus geht. "Wir teilen zu 100 Prozent das Ziel, das in Ziffer 12.1 formuliert ist: Schutz von Minderheiten vor Stigmatisierung, genau darum geht es", sagt Chefredakteur Uwe Vetterick. Seine Redaktion glaube allerdings nicht, dass der im Pressekodex formulierte Weg zu diesem Ziel in der Region Dresden und bei den Lesern seines Blattes der richtige sei. In dem Erklärstück Anfang Juli hieß es, viele Redakteure seien eher vom Gegenteil überzeugt: "Gerade das Nichtnennen der Nationalität von Straftätern und Verdächtigen kann Raum für Gerüchte schaffen, die häufig genau denen schaden, die wir doch schützen möchten." Uwe Vetterick sagt, das Nennen der Nationalität sei "ein begründeter Versuch, die Wahrnehmung von Flüchtlingen näher an die Wirklichkeit zu führen".

Dieser Versuch fußt auf einer Debatte innerhalb der Redaktion sowie auf einer Studie der TU Dresden unter Abonnenten der Zeitung. Demnach sind zwar die meisten Leser davon überzeugt, dass Ausländer nicht krimineller sind als Deutsche (65 Prozent, plus 13 Prozent "weiß nicht") - ein Viertel aber glaubt auch, in der Berichterstattung würde die Herkunft ausländischer Straftäter aus Rücksicht auf diese verschwiegen.

Was der Presserat dazu sagt

Die Reaktionen der Leser auf die Entscheidung des Blattes seien "verhalten positiv", sagt Vetterick nun, es habe überhaupt nur wenige Rückmeldungen gegeben. Die Abläufe in der Redaktion selbst spielen sich langsam ein. Wird etwa über ein Verbrechen berichtet, das sich anderswo zugetragen hat, in München oder Köln, und liefert dpa die Herkunft des Täters nicht mit, dann bleibt diese ungenannt. Schwieriger ist das Abwägen in anderen Fällen. Wenn ein in Dresden lebender Detlef B. vor Gericht steht, muss man auch dann schreiben, dass er Deutscher ist? "Bei manchen Dingen sind wir gerade vielleicht sogar einen Tick zu genau", sagt Vetterick.

Die Frage dürfte auch sein, wie genau es der Presserat mit Blick auf die Sächsische Zeitung nimmt. "Bis jetzt hat uns deswegen noch keine einzige Beschwerde gegen die Zeitung erreicht", sagt Lutz Tillmanns, der Geschäftsführer des Deutschen Presserats. "Wir planen derzeit auch nicht, von uns aus ein Verfahren anzustrengen: Auch die Redaktion sieht das Ganze ja als Experiment." Tillmanns bezweifelt jedoch, dass die Sächsische Zeitung ihr Ziel, Minderheiten zu schützen, mit der konsequenten Nennung der Herkunft erreichen kann. "Wenn ich schreibe: Das war ein Tunesier, dann hilft das vielleicht Ägyptern oder Marokkanern - aber gegenüber anderen Tunesiern schürt das Vorurteile", sagt er.

Vetterick betont, dass es ihm nicht darum gehe, Vorreiter zu sein oder eine Regel für alle und für immer aufzuweichen: "Die Situation kann in Hamburg, Mannheim, Stuttgart eine ganz andere sein. Und sie kann auch bei uns einmal wieder eine andere sein." In zwei Jahren solle die Regelung überprüft werden. "Wir beobachten dieses Experiment und bleiben mit Herrn Vetterick im Dialog", sagt Lutz Tillmanns.

Mitunter weicht die Sächsische Zeitung bislang noch von ihrem selbstgewählten Ziel ab. Ende vergangener Woche etwa spitzte sich eine seit zwei Wochen bestehende Gefahrensituation zu. Immer wieder wurde ein Lebewesen auf der Autobahn 4 gesichtet und gefährdete den Verkehr - die Nationalität des Huhns blieb bislang ungenannt, ein Radiosender hat es inzwischen auf den Namen "Gerda" getauft.

© SZ vom 15.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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