Russische Medien:Wenn Gerüchte regieren

A woman looks at a mobile phone as she stands in front of a painting depicting Russian president Vladimir Putin at the 'SUPERPUTIN' exhibition in UMAM museum in Moscow

Was bewegt Russland? Politisch Interessierte sind immer häufiger auf ihr Smartphone angewiesen, wenn sie wirklich etwas erfahren wollen.

(Foto: REUTERS)

Der Messenger-Dienst Telegram bestimmt immer mehr, worüber Russland spricht. Das Problem: Niemand weiß, wo seine Nachrichten herkommen.

Von Julian Hans, Moskau

Was soll man zum Beispiel von der Nachricht halten, der russische Präsident prüfe derzeit Entwürfe zur Reform von Polizei und Geheimdiensten? Diverse Dienste, die zu Sowjetzeiten dem KGB angehörten, sollten wieder dem FSB angeschlossen werden, um eine "Super-Behörde" für Staatssicherheit zu schaffen. So berichtet es der Kanal Metoditschka (@metodi4ka). Nesygar (@russica2) weiß derweil von einer Razzia bei Voentelecom zu berichten, einer Telekommunikationsfirma, die dem Verteidigungsministerium gehört. "Die Durchsuchung und die Verhaftung von Top-Managern muss noch bestätigt werden." Quellen für diese Scoops werden nicht genannt.

Nesygar und Metoditschka sind zwei der populärsten Politik-Kanäle auf dem Messenger-Dienst Telegram, einem Programm vergleichbar mit Whatsapp. Sie versprechen Insider-Informationen aus dem Kreml, den Ministerien und aus russischen Behörden noch bevor sie in anderen Medien auftauchen. Die Autoren hinter den Nachrichten bleiben anonym, doch in Russland gehören die beiden Kanäle trotzdem derzeit zu den einflussreichen politischen Nachrichtenquellen.

Telegram, das russische Whatsapp, hat der junge IT-Unternehmer Pawel Durow vor vier Jahren erstmals veröffentlicht. Zuerst war die App nur ein weiterer Messenger, schnell, komfortabel zu bedienen und mit der Möglichkeit, die Kommunikation zu verschlüsseln. Seit Telegram vor zwei Jahren so genannte "Kanäle" einführte, hat sich das Chat-Programm auch zu einem neuen Medium entwickelt, über das Nachrichten und Gerüchte verbreitet werden. Und auch Falschmeldungen.

Im Kanal "Stalingulag" kann man bissige Kommentare zum politischen Tagesgeschehen lesen

Die Zahl der Abonnenten ist inzwischen so groß, dass die kostenlosen Kanäle als Mitspieler auf dem Markt der Informationen ernst genommen werden. Ganz gleich, ob die Gerüchte stimmen oder nicht - sie setzen Themen, denen Journalisten bei Zeitungen, Internetportale und Sendern nachgehen. Nesygar hat mehr als 90 000 Abonnenten, Metoditschka fast 40 000. Der beliebteste politische Kanal ist Stalingulag (@stalin_gulag) mit mehr als 160 000 Lesern. Er veröffentlicht keine Insider-Informationen, sondern bissige Kommentare zum politischen Tagesgeschehen.

Die Berichte sind nicht immer zutreffend, es gibt keine klassischen journalistischen Standards, aber sie sind es oft genug. Und manche stellen sich auch erst nach Monaten als wahr heraus. Im Sommer wurde in Telegram-Kanälen spekuliert, im Kreml wünsche man sich eine Frau als liberale Sparrings-Partnerin für Wladimir Putin bei den kommenden Präsidentschaftswahlen. Anfang September griff die Zeitung Vedomsti das Gerücht als erste auf. Mitte Oktober dann gab Ksenia Sobtschak, Moderatorin beim liberalen Fernsehkanal Doschd und angeblich Putins Patenkind, ihre Kandidatur bekannt.

Wer hinter den erfolgreichen Kanälen steckt, weiß keiner. Sind es am Ende doch Journalisten?

Einen Kanal zu gründen ist so einfach, wie einen Chat zu starten, den jeder andere Nutzer abonnieren kann. Anders als etwa bei Twitter oder Facebook funktioniert der Kanal als Einbahnstraße: Die Abonnenten sind nur Empfänger, sie können weder kommentieren noch - etwa mit einem Like - bewerten. Obwohl sich auch Fotos, Videos und Audio-Dateien versenden lassen, beschränken sich die meisten Kanäle auf Textnachrichten. Journalistische Formen spielen keine Rolle, meistens wird im gleichen Plauderton erzählt, in dem gewöhnliche Chat-Nachrichten verfasst sind.

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Pawel Durow hat den Dienst Telegram vor vier Jahren veröffentlicht.

(Foto: Robert Schlesinger/dpa)

Der riesige Erfolg der Chat-Nachrichten ist nicht verwunderlich, denn je stärker die traditionellen und inzwischen auch die sozialen Medien in Russland unter Druck geraten, desto beliebter werden Schlupflöcher wie Telegram. Was eine Zeitung vielleicht nicht druckt, weil die Information sie in Schwierigkeiten bringen könnte, das kann der Autor stattdessen anonym über Telegram in die Welt schicken. Auf Journalisten fällt deshalb auch der erste Verdacht, wenn darüber spekuliert wird, wer hinter den Kanälen stecken könnte.

Nesygar spielt schon im Namen darauf an. Michael Sygar war lange Chefredakteur des Kreml-kritischen Fernsehsenders Doschd. Sein Buch über das Innenleben des Putin-Systems wurde vor zwei Jahren ein Bestseller, auf Deutsch ist es unter dem Titel "Endspiel" erschienen. Nesygar sei also "nicht Sygar", so ließe sich der Titel übersetzten. Gerade deshalb hält sich das Gerücht, es stecke eben doch Michail Sygar selbst dahinter. Andere wiederum glauben, der Kanal werde von Leuten aus dem Umfeld von Premierminister Dmitrij Medwedew betrieben. Hinter Metoditschka werden wahlweise der Kreml selbst, Mitarbeiter der Staatsduma oder gar der Parlamentspräsident Wjatscheslaw Wolodin persönlich vermutet.

Neben den großen und einflussreichen Politik-Angeboten stehen Tausende Kanäle zu Nischenthemen, Oper Slil (@operdrain, etwa: Der Ermittler hat es durchgestochen) bringt Polizeimeldungen und manchmal Insider-Informationen von den Sicherheitskräften und vom Strafvollzug. Das gleiche gibt es bei Kapitän Wrungel (@capt404) zum russischen Militär.

Selbst der Kreml verfolgt inzwischen die Nachrichten auf den Telegram-Kanälen. Das bekannte im September Putins Sprecher Dmitrij Peskow der Zeitung Vedomosti. Ebenso Polizei und Staatsanwaltschaft, der Geheimdienst FSB und einige Ministerien. Das Außenministerium und die Generalstaatsanwaltschaft etwa betreiben eigene offizielle Kanäle. Die Behörden haben wiederholt damit gedroht, Telegram zu verbieten. Der Geheimdienst FSB fordert einen Nachschlüssel für geschützte Chats. IS-Kämpfer hatten den Messenger für ihre Kommunikation genutzt. Bisher weigert sich Durow.

Telegram sei inzwischen zu einer Plattform für ein Kräftemessen unterschiedlicher Einflussgruppen in der russischen Politik geworden, urteilt die Zeitung Vedomosti. Und ein Markt für Reklame und politische PR. In unregelmäßigen Abständen empfiehlt zum Beispiel StalinGulag Websites oder andere Kanäle - gegen Geld.

Transparent sind die Geldgeber selten, erst recht, wenn es um politische Gerüchte geht. Bis zu 6000 Euro werden angeblich für die Veröffentlichung einer Nachricht in einem populären Kanal bezahlt, zitiert Vedomosti einen hohen Beamten. Aber auch der wird nicht namentlich genannt.

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