Presseschau zum SPD-Führungswechsel:"Er war stets zu klein dimensioniert für dieses Amt"

Presseschau zum SPD-Führungswechsel: "Ein Mann sieht Not" - So beschreibt die Welt auf ihrer Titelseite die Selbsterkenntnis des bisherigen SPD-Vorsitzenden.

"Ein Mann sieht Not" - So beschreibt die Welt auf ihrer Titelseite die Selbsterkenntnis des bisherigen SPD-Vorsitzenden.

(Foto: Screenshot Die Welt)
  • Die Presse ist sich uneinig, wie sie den Wechsel an der Spitze der SPD beurteilen soll. Manche Kommentatoren betrachten den Abgang des Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel als stil-, andere als tadellos.
  • Auch bei der Beurteilung des künftigen Parteivorsitzenden Martin Schulz gehen die Meinungen auseinander.

Die Kommentare in der deutschen Presse über den Stabwechsel bei der SPD von Sigmar Gabriel auf Martin Schulz sind zwiespältig.

Die Berliner Zeitung konstatiert Zustimmung zum Führungswechsel innerhalb der SPD, die allerdings nicht aus Schulz' Stärke herrühre: "Es ist der Frust über Gabriel, der einen beträchtlichen Teil der Schulz-Euphorie auf allen Flügeln der Sozialdemokratie speist. Solange sein Name nur als eine denkbare Option gehandelt wurde, eignete er sich hervorragend als Projektionsfläche aller möglichen Erwartungen. Nun muss Schulz sich inhaltlich positionieren, und natürlich wird das zu Enttäuschungen führen. So ist es schon bemerkenswert, dass die SPD mit einem Kandidaten antritt, über dessen Positionen in der Sozial-, der Steuer- oder der Innenpolitik man praktisch nichts weiß. Schulz hat sich alleine als leidenschaftlicher Europäer einen Namen gemacht."

Kritisch äußert sich die Lausitzer Rundschau über die Art und Weise, wie Gabriel abtritt: "Es ist stillos, alle zum Schweigen bis zum 29. Januar zu verdonnern, aber vorher schon einigen Medien sämtliche Entscheidungen mitzuteilen. Erst die eigene Reputation, dann die der Partei. Es ist stillos, sich ein zweites Mal als Parteivorsitzender zu verdrücken, wenn der Wahlkampf gegen Angela Merkel naht. Einer, der von sich zu wissen glaubt, dass er nicht als Kanzlerkandidat taugt - und das ist kein falscher Gedanke -, sollte keine große Volkspartei führen. Oder wenigstens gleich einen anderen für das angestrebte Regierungsamt aufbauen und sich mit der Position im Rückraum begnügen. Und es ist ebenso stillos, sich jetzt schnell noch den Job des Außenministers zu sichern."

Die Rheinische Post betrachtet Schulz als Hoffnungsträger und lobt Gabriel für seinen Abgang. Dieser sei konsequent: "Wenn man geht, dann richtig. Erst das Land, dann die Partei, dann erst ich, mag Gabriel gedacht haben. Seine Umfragewerte sind seit Jahren unterirdisch, in der Partei wie im Rest der Republik. Martin Schulz dagegen steht etwas besser da. Und er segelt unter dem Wind des Neulings auf der Berliner Bühne. (...) Schulz ist in jeder Faser seines Körpers Politiker. Eine Rampensau, ein leidenschaftlicher Streiter. Schon als Linksverteidiger bei Rhenania05 Würselen war er der Spieler, der mit dem schmutzigsten Shirt vom Feld ging. So einer ist eine Chance für die SPD. Schulz kann reden, seine Aufsteigervita - zweiter Bildungsweg, Verletzungen, Alkoholprobleme, Buchhändlerlehre, EU-Parlamentspräsident - ist eine Geschichte wie aus dem sozialdemokratischen Lehrbuch. Der Mann der zweiten Chancen."

Das Westfalen-Blatt kritisiert Gabriel dafür, alle Vereinbarungen über Bord geworfen zu haben. Als Parteichef habe er jede und jeden verdonnert, bis zum 29. Januar eisern zu schweigen, doch dann habe er per Interview einen grandiosen Akt der Selbstinszenierung geliefert. Dabei habe er viel bewirkt: "In jedem Fall bleibt Sigmar Gabriel nun der Unvollendete. Eine Bezeichnung, die im eklatanten Widerspruch zu dem steht, was er für seine Partei als Vorsitzender erreicht hat. Insbesondere aus dem lausigen 23-Prozent-Ergebnis der Wahl 2009 hat der SPD-Chef enorm viel gemacht. Rente mit 63, Mindestlohn und mit höchster Wahrscheinlichkeit ein neuer Bundespräsident mit sozialdemokratischem Parteibuch. Diese Bilanz ist mehr als respektabel."

Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung zollt Gabriel Respekt, verpackt diesen aber freundlicher als das Westfalen-Blatt: "Gabriels Kanzlerkandidatur wäre als 'Opfergang' ausgelegt worden, nicht gerade die ideale Begleitmusik für einen Wahlkampf aus einer ohnehin hoffnungslosen Defensive. Unter diese nahezu ausweglose Perspektive hat Gabriel nun einen Schlussstrich gezogen. Nach allem, was er für die Partei getan hat, verdient das Respekt. Den zollt er sich gewissermaßen selbst, indem er ins Außenamt wechselt. Das ist ein Rückzug, aber alles andere als ein Abschied."

Schwierige Zeiten für Martin Schulz sehen die Stuttgarter Nachrichten voraus: "Gabriels dünnhäutiger Verzicht auf den Parteivorsitz ist folgerichtig. Die SPD kennt sich schließlich mit spektakulären Chef-Rücktritten aus. Sein Wechsel vom Wirtschafts- ins Außenministerium dagegen wäre politische Flickschusterei, auch wenn er die schwarz-rote Koalition bis zum Ende vor größeren Turbulenzen bewahren dürfte. Die SPD fängt mit Schulz im Prinzip von vorn an. Gabriels Erbe besteht vorwiegend aus Schulden und Luftbuchungen. Schulz wird es zu spüren bekommen. Der 61-Jährige dürfte sowohl als Kanzlerkandidat wie als Parteichef Mühe haben, die SPD nach der ersten pflichtschuldigen Begeisterung bis zum 24. September unter Wahlkampfdampf zu halten."

Die Welt erkennt die Gründe für den Stabwechsel in Gabriels Schwächen und Schulz' Stärken: "Anders als dem bislang letzten SPD-Kanzler Gerhard Schröder fehlte Gabriel sowohl jener unerlässliche Machthunger, der zum Rütteln an Kanzleramtstoren führt, als auch die klar definierte Vision für ein Deutschland und Europa, wie es unter seiner Führung aussähe. Er war sprunghaft, angenehm zustimmungsbedürftig, aber stets ein wenig zu klein dimensioniert für dieses Amt." Schulz hingegen bringe - rhetorisch brillant, intellektuell neugierig, außenpolitisch erfahren - viel mit, was der SPD im Wahlkampf helfen könne: "Für die Bundespolitik ist er, auch wenn er das stets ein wenig anders einordnet, ein neues Gesicht. Auch das spricht für ihn, wenn es gegen eine Kanzlerin geht, die mehr als alles andere den Status quo verkörpert. Schulz interessiert sich für die Zukunft: für modernes Wirtschaften, Digitalisierung und wie sich ein Europa in Zeiten verhinderten Freihandels positionieren kann."

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