Pressefreiheit in der Türkei:"Erdoğan möchte regieren wie einst Ben Ali in Tunesien"

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"Mithilfe von Tränengas und Wasserwerfern in staatliche Kontrolle überführt": Demonstration in Istanbul vor dem Gebäude der Zeitung Zaman Anfang März. (Foto: Ozan Kose/AFP)

Die Türkei galt als Vorbild für die muslimische Welt. Recep Tayyip Erdoğans Umgang mit der kritischen Presse zeigt: Das ist vorerst Geschichte.

Gastbeitrag von Abdülhamit Bilici, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung "Zaman"

Diese Zeilen schreibe ich aus einem Land, dessen Regierung endgültig die demokratischen Prozesse ausgesetzt hat. Bis vor Kurzem war ich Chefredakteur von Zaman, einer Zeitung, die ins Visier der Regierung geraten ist, weil sie, nun ja: Journalismus ausgeübt hat.

Innerhalb weniger Stunden wurde ich vom Chefredakteur der auflagenstärksten Zeitung der Türkei zum "Mitglied einer Terrororganisation". Am 4. März überführte Erdoğan unsere Zeitung mithilfe von Tränengas und Wasserwerfern in staatliche Kontrolle. Mitarbeiter wurden verprügelt und beleidigt.

Meine schöne Heimat Türkei galt eine Zeit lang als Vorbild für die muslimische Welt. Sie war ein Land, in dem demokratische Reformen und wirtschaftlicher Fortschritt sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen lieferten.

Alles Geschichte. Nun spricht man von Unterdrückung, Terror und Chaos, wenn man über die Türkei spricht. Es tut sehr weh, dass diese Chance verpasst wurde. Unsere Verfassung ist außer Kraft, unsere Justiz hilflos gegenüber Recep Tayyip Erdoğans Willkür. Er hat Sondergerichte geschaffen und erfahrene Richter gefügig gemacht; die kleinste Kritik wird im Keim erstickt. Es herrscht Angst in den Redaktionen, Angst unter den Menschenrechtlern, in der Geschäftswelt. Dass der deutsche Botschafter in Ankara sich rechtfertigen muss, weil der NDR ein satirisches Musikvideo über Erdoğan veröffentlicht hat, zeigt mal wieder, in welchen Kategorien dieser Staatschef denkt.

Auf einmal Sprachrohr kurdischer Terroristen

Erdoğans Attacken auf die Pressefreiheit sind natürlich nicht neu. Merkwürdig ist, dass Zaman plötzlich eine Art medialer Partner der kurdischen Terrororganisation PKK sein soll.

Als Erdoğan noch an einer Lösung der Kurdenfrage interessiert war, wurde meiner Zeitung vorgeworfen, gegen die versöhnliche Kurdenpolitik der Regierung anzuschreiben. Als wiederum klar wurde, dass es wohl nichts wird mit den Stimmen der Kurden, wurde Zaman auf einmal zum Sprachrohr kurdischer Terroristen und musste gestürmt werden.

Zaman hat wie jede Zeitung Fehler gemacht, aber an einem Prinzip haben wir immer festgehalten: Demokratie muss für alle gelten, für konservative Sunniten, für Aleviten, für Atheisten, für Kurden. Bei uns schrieben Sozialisten, fromme Muslime, Griechen, Juden, Armenier. Es gab Zeiten, da lag die Auflage von Zaman bei einer Million Exemplaren.

Erdoğans Kampfansage gilt der Pressefreiheit an sich

Der Angriff auf Zaman ist zweifelsohne auch Teil des Angriffs auf die Hizmet-Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, deren Anhänger die Zeitung 1986 gründeten.

Aber die Gleichschaltung von Zaman ist mehr als das. Erdoğans Kampfansage gilt der Pressefreiheit an sich, egal wer von dieser Freiheit Gebrauch macht. Er will Zaman nicht schließen, er will die Zeitung auf Dauer zum eigenen Sprachrohr machen. Und das gelingt ihm offenbar. Lediglich 24 Stunden nach dem Sturm auf die Redaktion erschien Zaman mit gleich mehreren Erdoğan-freundlichen Schlagzeilen.

Es war interessant zu beobachten, wie Medien weltweit über diese beispiellose Aktion berichteten, während große türkische Medien fleißig schwiegen. In der selben Woche verloren zwei Fernsehsender, ebenfalls ohne Aufhebens in den Heimatmedien, ihre Satellitenfrequenzen; der eine wegen seiner prokurdischen Berichterstattung, der andere wegen seiner Nähe zu nationalistischen Kreisen.

Can Dündar, Chefredakteur der kemalistischen Zeitung Cumhuriyet, erhielt abermalige Drohungen vom Staatschef persönlich. In Ostanatolien wurden drei Hochschullehrer verhaftet, die eine Erklärung zur Kurdenfrage unterschrieben hatten. Dem Medienunternehmer Aydın Doğan ( Hürriyet, CNN Türk) drohen 23 Jahre Haft. Kurzum: Man muss nicht Teil der Gülen-Bewegung sein, um ins Visier der Staatsanwälte zu geraten.

Unsere europäischen Freunde machen derzeit leider keine gute Figur, wenn es darum geht, ihre eigenen Werte Recep Tayyip Erdoğan gegenüber zu verteidigen. Einige wenige Politiker haben sich besorgt geäußert, aber sonst gab es keine ernsthaften Reaktionen.

Erdoğan hat es in der Flüchtlingskrise geschafft, sich Europas Schweigen zu erkaufen. Während der Niederschlagung der Gezi-Proteste vor drei Jahren bestand Bundeskanzlerin Angela Merkel noch zu Recht darauf, die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei zu bremsen. Nun schweigt Merkel, was sehr enttäuschend ist. Sie schweigt bereits seit einer Weile, und nicht zuletzt dieses Schweigen erlaubte Erdoğan, wenige Tage vor einem EU-Gipfel die Redaktion von Zaman stürmen zu lassen.

Europa ist für uns mehr als eine geografische Gegend, es ist eine Wertegemeinschaft. Der bewusste Verzicht auf einen Teil dieser Werte hat sich nun unmittelbar auf Zaman ausgewirkt. Das hat wehgetan, aber das sind kurzfristige Auswirkungen. Langfristig muss man leider annehmen, dass das Vertrauen zu Europa und zu seinen Werten in der Türkei schwindet.

Erdoğans Regime - dieser Ausdruck ist mittlerweile gerechtfertigt - hat anderen kritischen Medien gegenüber andere, anspruchsvollere Methoden angewandt. Aber das Ergebnis ist das gleiche: Jede Redaktion hat ihren eigenen, auf sie zugeschnittenen Maulkorb verpasst bekommen.

Die Türkei besteht nicht aus Erdoğan

Bis auf wenige Ausnahmen sind türkische Medien heute damit beschäftigt, Erdoğans Siege zu verkünden. Erdoğans politisches Ziel wird damit klar wie nie zuvor. Er möchte das Land regieren, indem er sich auf seinen kleinen Clan stützt, wie einst Ben Ali in Tunesien.

Erdoğan, der sich seinerzeit von einem Islamisten in einen Demokraten wandelte, versucht heute nichts anderes, als die parlamentarische Demokratie in der Türkei auszuhebeln. Seinen sorgfältigen Plan setzt er konsequent um. Die alten Weggefährten Abdullah Gül und Bülent Arınç sind kaltgestellt. Nun heißt es: Geht Erdoğan, zerfällt der Staat.

Europa braucht Erdoğan in der Flüchtlingskrise, das ist klar. Nur glaube ich, dass die EU trotzdem auf ihre eigenen Werte nicht verzichten sollte. Es gibt in der Türkei genügend Menschen, die diese Werte teilen. Die Türkei besteht nicht aus Erdoğan.

Trotz seiner autokratischen Maschinerie hat er zuletzt "nur" 49 Prozent der Stimmen bekommen. Es waren deswegen keine 99 Prozent, weil die Türkei bereits eine demokratische Kultur und eine dynamische Zivilgesellschaft entwickeln konnte. Ich bin überzeugt, dass wir gerade einen Verkehrsunfall erleben. Aus der Türkei wird kein Syrien und kein Libyen. Die Türkei wird auf dem Weg zur Demokratie, den sie eingeschlagen hat, nicht kehrtmachen.

Aus dem Türkischen: Tim Neshitov

Abdülhamit Bilici , geboren 1970, war von Oktober 2015 bis zur staatlichen Übernahme des Blattes Chefredakteur von "Zaman".

© SZ vom 05.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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