Presse:Unter Beschuss

A man reads the Polish daily newspaper Gazeta Wyborcza in the centre of Warsaw

Aus Protest gegen die Beschneidung der Pressefreiheit in Weißrussland schwärzte die „Gazeta Wyborcza“ im November 2005 fast die ganze Titelseite.

(Foto: Katarina Stoltz/Reuters)

Die Regierung beantwortet ihre Anfragen so gut wie nie und soll Anzeigenkunden unter Druck setzen - trotzdem ist die vor 30 Jahren gegründete "Gazeta Wyborcza" heute die führende Zeitung Polens.

Von Florian Hassel

Wäre das Motto "Viel Feind, viel Ehr" der Maßstab für Erfolg, blickte Piotr Stasiński wohl auf die erfolgreichste Zeit in 30 Jahren Gazeta Wyborcza zurück. Seit in Polen die nationalpopulistische Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) regiert, wächst die Liste, auf der der Vize-Chefredakteur der polnischen Zeitung Klagen des Regierungslagers notiert.

"Seit November 2015 haben die Partei, ihre Minister oder von ihr kontrollierte Dienststellen oder Staatsunternehmen uns fast 30 Mal verklagt", sagt Stasiński. "Dazu kommen Dutzende Aufforderungen etwa zur Löschung von Artikeln oder zur Zahlung von Schmerzensgeld." Zuletzt zeigte PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński, Polens faktischer Regierungschef, zwei Journalisten von Polens führender Zeitung wegen angeblicher Verleumdung an.

Schon Ende 2018 deckte die GW, die übersetzt "Zeitung der Wahl" heißt, einen massiven Skandal um den damaligen Chef der polnischen Finanzaufsicht auf; kurz darauf, dass Mitarbeiterinnen des eng mit Kaczyński verbundenen Nationalbankdirektors Adam Glapiński trotz zweifelhafter Qualifikationen mehr als 10 000 Euro monatlich verdienen. Für polnische Verhältnisse ist das ein astronomisches Gehalt.

Und dann kamen Anfang des Jahres die "Kaczyński-Bänder": Der Gazeta wurden heimliche Mitschnitte zugespielt, die Gespräche Kaczyńskis und anderen PiS-Größen mit dem österreichischen Immobilieninvestor Gerald Birgfellner dokumentieren. Demnach diskutierte Kaczyński mit ihm den Bau eines 300-Millionen-Euro-Wolkenkratzers in Warschau zum Wohle einer parteinahen Stiftung. Als das Projekt scheiterte, erstattete Birgfellner Anzeige, er fühlte sich von Kaczyński um sein Honorar betrogen und forderte ihn zu einer zweifelhaften Zahlung auf.

Die "Kaczyński-Bänder" waren in Polen wie schon die vorangegangenen Enthüllungen tagelang Thema Nr. 1 und erschütterten das Image der PiS und ihres Chefs, der sich den Wählern als nicht an Gelddingen, sondern nur am Wohl des Vaterlandes interessiert verkauft. Kaczńyski verklagte die GW-Journalisten nicht wie üblich nach Zivilrecht, sondern wählte eine Strafanzeige nach Artikel 212 des Strafgesetzbuches - dieser sieht bis zu einem Jahr Gefängnis vor. "Kaczyński würde uns am liebsten tot und beerdigt sehen", sagt Herausgeber Jerzy Wójcik. "Gleichzeitig hat er uns enorm bei unserer Wiedergeburt geholfen."

Zu Beginn der PiS-Regierung steckte die GW, die am 8. Mai ihren 30. Geburtstag feierte, in der Krise. Die liberale Zeitung hatte innerhalb des Kaczyński-Lagers fast keine Quellen und erschien manchen als verzichtbar. Das hat sich geändert. Heute enthüllt sie wieder exklusiv, aufbauend auf ihr zugespielten Dokumenten, Mitschnitten oder Informationen aus dem Regierungslager.

GW-Gründer und Chefredakteur Adam Michnik, 72, überlässt das Alltagsgeschäft seinen Stellvertretern Jarosław Kurski und Piotr Stasiński. "Offiziell beantwortet kaum eine Regierungsstelle je unsere Anfragen", sagt Stasiński. "Doch absolute Macht korrumpiert. Wir bekommen unsere Informationen von Idealisten, die von der Realität der PiS-Regierung enttäuscht sind oder von Informanten, die hinter den Kulissen um Macht oder Geld kämpfen und ihrer Konkurrenz schaden wollen."

Lange vorbei ist die Zeit, als die Gazeta Wyborcza 1989 als erste freie Zeitung im damaligen Ostblock weit über eine halbe Million Exemplare verkaufte. Zeitungsabonnements gibt es in Polen nicht, am Kiosk verkauft die Gazeta gerade noch 100 000 Exemplare, die für vier Fünftel der Einkünfte sorgen. "Vor einigen Jahren kämpften wir ums Überleben", sagt Herausgeber Jerzy Wójcik. "Wir mussten 170 Mitarbeiter entlassen und alle Auslandsbüros schließen."

Die wirtschaftliche Wiedergeburt kam mit dem Digitalgeschäft: Von 1871 zahlenden Digitalabonnenten 2015 stieg die Zahl auf heute über 170 000. Allerdings ist ein GW-Digitalabo schon von umgerechnet drei Euro an monatlich zu haben - viel zu wenig, um die 450 Köpfe starke Redaktion langfristig zu finanzieren. Immer schreibt die GW nur leicht rote Zahlen; der Mutterkonzern Agora stützt die Zeitung mit Geld, das er etwa im Kinogeschäft oder der Gastronomie verdient. 2022 will Herausgeber Wójcik gut 325 000 zahlende Digitalabonnenten haben, später eine halbe Million. "Was uns optimistisch stimmt, ist, dass unser Digitalgeschäft rasant wächst", sagt er. Dafür sorgen zur Hälfte Leser in den Regionen, von wo aus die GW als einzige überregionale Zeitung mit Regionalbüros aus Polens 21 wichtigsten Städten berichtet.

Den 30. Geburtstag feierte die Zeitung mit mehr als 800 Gästen - aber ohne Vertreter der Regierung. Die hat der Gazeta nicht nur die früher jährlich bis zu fünf Millionen Euro ausmachenden Anzeigen und öffentliche Bekanntgaben durch Ämter oder Staatsfirmen gestrichen und Dienststellen verboten, sie zu abonnieren. Stasiński zufolge werden auch private Anzeigengeber unter Druck gesetzt. "Apotheken wurde etwa gesagt, sie würden von staatlichen Listen für den Medikamentenvertrieb gestrichen, wenn sie weiter bei uns inserierten."

Das Kulturministerium feilt seit Langem an einem Gesetz, das unter dem Deckmantel einer Anti-Monopol-Politik den Agora-Konzern und die Gazeta Wyborcza ebenso aufteilen könnte wie andere ausländisch kontrollierte Medienunternehmen, etwa die von Springer-Ringier herausgegebene Newsweek Polska oder der Fernsehsender TVN, hinter dem das amerikanische Familienunternehmen Scripps steht. Noch hat die PiS die "Repolonisierung" der Medien nicht umgesetzt - in Stasińskis Sicht vor allem "aus Angst vor den Reaktionen der USA". Mit der Macht Washingtons kalkuliert auch die GW-Mutter Agora: Sie hat sich mit Milliardär George Soros einen US-Bürger als Investor ins Haus geholt.

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