Porträt:Eine für alle

Die Stadt Schmallenberg im Sauerland hat 25 000 Einwohner - und die Lokalredaktion nur eine einzige Journalistin: die 29-jährige Katrin Clemens. Unterwegs mit einer Einzelkämpferin.

Von Cornelius Pollmer

Der Arbeitsplatz von Katrin Clemens liegt hinter einer Glastür an der Weststraße in Schmallenberg, Hochsauerlandkreis. Auf dieser Glastür steht "Redaktion", und das stimmt einerseits. Wenn jemand im Büro hinter der Tür anruft, dann nimmt Katrin Clemens den Hörer ab und sagt freundlich bis singend: "Die Westfalenpost, Clemens." Andererseits klingt "Redaktion" nach mehr: Es klingt nach Plural. Wenn jedoch der Bezirksausschuss wie neulich zu einer Bürgerversammlung lädt, dann steht im Kleinen Saal der Stadthalle ein einziger Tisch am Rand und daran ein einziger Stuhl. Dieser Stuhl ist für Katrin Clemens gedacht, und als die Sitzung schon eine Weile läuft, schaut der Ausschussvorsitzende Alfons Brüggemann irgendwann zu ihr herüber und bittet um Verzeihung. Er habe, sagt Brüggemann, "völlig vergessen, die Presse willkommen zu heißen".

Neben Staat und Kultur zieht sich auch der Journalismus aus der Fläche zurück

Abstrakt betrachtet, ist flächendeckender Journalismus schlicht eine Gelingensbedingung für freie und funktionierende Gesellschaften. Aus Branchensicht ist flächendeckender Journalismus aber vor allem etwas, das man sich auch leisten können und wollen muss. Und wenn Herr Brüggemann in Schmallenberg "die Presse" begrüßt, dann lässt sich recht genau benennen, wer damit gemeint ist. Die Presse, das ist hier Katrin Clemens.

Etwa 25 000 Menschen leben in der Stadt Schmallenberg, allerdings auf einer riesigen Fläche. Zu Schmallenberg gehören mehr als 300 Quadratkilometer, mehr als 80 Ortsteile, mehr als 20 Bezirke. Wer sich davonmachen will, der braucht vergleichsweise ewig, bis ein blaues Schild dann doch mal eine Autobahn in Aussicht stellt. Ein weltmarktführendes Unternehmen, das hier ansitzt, verlegte seinen Sitz nach dem Krieg angeblich wohlüberlegt aus der Großstadt nach Schmallenberg. Die Gründer sollen sich handlungsleitend gefragt haben: Wenn mal wieder Bomben fallen, wo fallen sie garantiert nicht?

Etwa 6000 Mitarbeiter arbeiten für die Funke-Mediengruppe. Beim Zählen der vielen Zeitungstitel und Verbreitungsgebiete kommt man noch schneller durcheinander als bei der Vermessung Schmallenbergs. Dass eine Redaktion aus nur einem Menschen besteht und dass es außer diesem Menschen keine weiteren Journalisten in einem Ort gibt, ist zwar selten, und in Schmallenberg war das schon so, bevor jemand das Wort Medienkrise überhaupt kannte. Grundsätzlich aber ist es so, dass auch Funke in den vergangenen Jahren mit Zusammenlegungen und Entlassungen versucht hat, sinkende Erlöse aus dem Geschäft mit Journalismus auszugleichen. Es gibt in Deutschland nicht nur den demografischen Wandel, im Zuge dessen die Leute älter und gerade außerhalb der großen Zentren in der Regel weniger werden. Es gibt auch einen publizistischen Wandel. Neben Staat und Kultur und Zukunftseifer zieht sich mancherorts auch der Journalismus aus der Fläche zurück.

Katrin Clemens kann es nicht leiden, wenn Leute über Lokaljournalisten lästern

Schmallenberg ist das, was man schön nennt. Das Fachwerk ist reglementiert bis zur Art des eingesetzten Schiefers, es gibt Leben auf der Straße, es ist ein Stück Hinterland, in dem die Leute gut und gerne leben. Was in diesem Leben so passiert, können die Menschen in der Westfalenpost nachlesen. Katrin Clemens, 29, hat mal eine, mal zwei Seiten in der Zeitung zu füllen, dazu bei Bedarf und aktuell die Webseite. Sie berichtet gewissenhaft über das, was Gesellschaft ausmacht. Zu den Aufmachern der vergangenen Wochen gehörten Berichte über die neue Leiterin des Städtischen Gymnasiums, über eine neue Veranstaltungsreihe im Kunsthaus Alte Mühle, über einen Streit um Wegenutzung. Jeden Samstag berichtet der Ortsheimatpfleger aus der Geschichte Schmallenbergs. Clemens mag ihre Arbeit, und wenn ihr etwas verlässlich Ärger macht, dann ist es die Tatsache, dass das Wort Schmallenberg im Satz ziemlich schlecht umläuft. "Aber darüber will ich nicht klagen. Im Volo gab es auch Rheda-Wiedenbrück!"

Porträt: Illustration: Shutterstock/SZ-Grafik

Illustration: Shutterstock/SZ-Grafik

Katrin Clemens schreibt Texte für die Zeitung, seit sie 16 Jahre alt ist. Als freie Mitarbeiterin begann sie in der Redaktion Werl-Wickede (Ruhr)-Ense, gegen die man an dieser Stelle sofort ein Umlaufverfahren eröffnen müsste, gäbe es sie noch. Es gibt sie aber nicht mehr, seit 2009. Clemens studierte da noch, machte Praktika, auch einen Studentenjob beim WDR, "da habe ich hauptsächlich Teleprompter gedreht". Seit bald drei Jahren rotiert sie nun selbst, als Redakteurin in Schmallenberg. Worauf sie im Übrigen "schwer allergisch" reagiere, das sagt Katrin Clemens gleich zu Beginn des Besuchs, das sei, "wenn Leute sagen, Lokaljournalisten würden nur über Kaninchenzüchter schreiben und sonst den halben Tag Däumchen drehen".

Journalismus ist in aller Regel ein abwechslungsreicher Beruf, Lokaljournalismus umso mehr. Widerstand gegen die Planung eines Windparks, ein Prozess am Amtsgericht wegen Einbruchdiebstahls, ein verloren gegangener Welpe, die Bilanz der örtlichen Sparkasse. Clemens sagt, sie möge es, hier schon "in jedes kalte Wasser" geworfen worden zu sein, zudem bekomme sie hier alles "sehr direkt, die Leute stehen auch mal plötzlich bei mir am Schreibtisch". Natürlich bemerkt sie auch in Schmallenberg allgelegentlich den Vertrauens- und Bedeutungsverlust der Medien bei einigen Menschen. Natürlich gibt es auch hier routinierten Alltag und Arbeitstage, die mit einem nicht im engeren Sinne aufregenden Telefonat beginnen: "Du, Manuela macht uns 'ne zweispaltige Grafik über Wohnungseinbrüche."

Mit einer Auflage von 3900 Exemplaren erscheint der Lokalteil Schmallenberg an sechs Tagen in der Woche. Tendenz: na ja. Wie substanziell die Arbeit von Lokaljournalisten ist, geht einem womöglich erst in der Imagination ihrer Abwesenheit auf. So führt die Arbeit Katrin Clemens am 9. November zu einer Verhandlung am Amtsgericht Meschede. Auf den Besucherplätzen sitzt außer ihr nur ein Angehöriger einer Zeugin. Die Richterin erkundigt sich zu Beginn der Verhandlung etwas verwundert und mit Neugier bei Clemens, "welcher Interessengruppe" sie angehöre. Der Arbeitstag ist noch nicht zu Ende bei einem zügigen Abendessen in einem Einkaufszentrum neben der einzigen Rolltreppe im Ort. Clemens wird erkannt, angesprochen, gefragt. Bei der anschließenden Bürgerversammlung zum Verkehrskonzept 2030 sind zwar 50 interessierte Anwohner gekommen. Einer erkundigt sich nach der "Engstelle in Höhe des Netto", ein anderer zum Rückstau auf dem Paul-Falke-Platz, und Frau Schweins wünscht sich eine Toilette für den Kurpark. Was aber ist mit denen, die nicht hier sitzen? Und wer moderiert viele Einzelinteressen zu etwas, das den Namen Diskurs verdient?

Porträt: Mit 16 begann Katrin Clemens als freie Journalistin.

Mit 16 begann Katrin Clemens als freie Journalistin.

(Foto: oh)

Katrin Clemens sagt, sie habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sie ihr ganzes Berufsleben als Journalistin verbringen könne. Aber mehr als eine Hoffnung ist es nicht. Was wäre, wenn auch ihr Büro eines Tages geschlossen werden sollte? Viele Leute, sagt Clemens, "wenden sich an uns, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen, an wen sollten die sich dann wenden? Klar, sie könnten sich alle gegenseitig verklagen, aber die kleinen Leute hätten keine Stimme mehr im Diskurs". Auch wolle sie ihre Position nicht hochspielen, aber: "Ich fände es enorm schwierig, welche Macht Kommunalpolitik dann hätte." Es gäbe womöglich niemanden mehr, der ohne eigene Interessen Sitzungen begleitet und Leistungen bilanziert, es gäbe, sagt Clemens, schlicht "keine Grundlage mehr für Meinungsbildung". Unter anderem deshalb sei es ihr so wichtig, über lokale Themen zu berichten. Politische Meinungsbildung und letztlich Wahlentscheidungen von Bürgern hingen nun mal stark davon ab, wie gerecht sie sich in ihrem direkten Lebensumfeld behandelt und vertreten fühlen.

Wenn Katrin Clemens durch den Ort geht und Menschen mit Zeitung sieht, dann schaut sie auf die Farben im Titel. Blau und Rot sind gut, die gehören zum Verbund. Gelb ist nicht gut, das ist das kostenlose Anzeigenblatt. Clemens kann auf einige freie Mitarbeiter zurückgreifen und auf eine Vertretung aus Meschede, wenn sie mal im Urlaub ist. Sie kann 25 Cent für den gefahrenen Dienstkilometer abrechnen und an dem langen Weg zur Arbeit, pro Strecke 50 Minuten, sei sie ja selbst schuld, sie könnte ja auch umziehen. Katrin Clemens ist begeisterungsfähig, wenn Menschen sich nicht nur darstellen, sondern einsetzen für die Orte, über die sie berichtet. Sie kann der Verwaltung auch einmal gute Arbeit attestieren, käme aber nie auf die Idee, den Bürgermeister zu duzen. Sie kennt Wege und Zeitläufe hier so gut, dass sie lieber noch etwas wartet, bis sie ihr Auto in die Waschanlage fährt, weil gerade der Mais eingetragen wird. Sie ist ihrem Berichtsgebiet nicht so verfallen, dass sie es für den Nabel irgendeiner Welt halten würde. Es ist also alles in einer gewissen Ordnung.

Möglich, dass ein entlaufener Welpe nur durch ihren Einsatz wieder auftauchte

Die Samstagsserie des Ortsheimatpflegers heißt übrigens "Zeugen der Zeit", es geht um "Begebenheiten der Schmallenberger Stadtgeschichte": Pferderennen vor 60 Jahren oder Legenden von Opferritualen, alles spielt in der Vergangenheit. So wie die Geschichten von Clemens, Zeugin ihrer Zeit, in der Gegenwart spielen. Und manchmal in derselben sogar sichtbar etwas Gutes bewirken. Der entlaufene Welpe war kurz nach der Berichterstattung der Westfalenpost wieder aufgetaucht, wohlgenährt und gut gepflegt. Einhellige Vermutung: Jemand hatte ihn gekascht, angesichts der öffentlichen Aufmerksamkeit dann aber Schiss bekommen und ihn wieder freigegeben. Sie wisse, dass deswegen die Welt sich nicht verändere, sagt Clemens, aber schön sei es doch schon, oder? Und außerdem, aber das wirklich nur als absolute Nebensächlichkeit: "Hundebabys klicken sich wahnsinnig gut."

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