Phänomen "Slow TV":Jetzt mal ganz langsam

Zu sehen gibt es Kaminfeuer, eine 134-stündige Schiffsfahrt oder Menschen, die einfach einen Pullover stricken. In Norwegen ist aus der Schnapsidee einiger Fernsehleute der Riesenerfolg "Slow TV" geworden. Bald soll die Entdeckung der Langsamkeit auch anderswo Zuschauer beglücken.

Von Irene Helmes

"Es ist das perfekte Beispiel dafür, wie verrückt unsere Industrie ist", sagt ein US-amerikanischer Reality-TV-Produzent der New York Post. Und meint damit einen Trend, der im kommenden Sommer auch amerikanische Zuschauer zur Abwechslung nicht vom Hocker reißen, sondern eher entspannt aufatmen lassen soll. Die Produktionsfirme LMNO hat für den US-Markt die Rechte am sogenannten Slow TV erworben.

Dabei war Slow TV ursprünglich nur eine Idee, wie man sie am Ende einer feuchtfröhlichen Nacht habe, hat der Produzent Rune Møklebust der Deutschen Welle verraten. Doch es funktioniert - in den sozialen Netzwerken und bei den Einschaltquoten, zumindest in Norwegen.

Die Sendungen, die der Sender NRK dort seit geraumer Zeit in unregelmäßigen Abständen zeigt, heißen "Nationale Stricknacht" (ausgestrahlt im November), "Nationale Feuerholznacht" (Februar, zu sehen hier), oder "Bergensbanen: Minute für Minute". Bei letzterer sahen 2011 sage und schreibe mehr als die Hälfte der fünf Millionen Norweger zumindest phasenweise dabei zu, wie ein Schiff 134 Stunden lang durch Fjordlandschaften schipperte. Seither scheint nichts mehr undenkbar.

So grübeln die Erfinder über ihre nächsten Sendungen - die Rede ist etwa von "Einem Tag im Leben einer Schnecke" oder dem Abfilmen des Berliner Kunstprojekts "Standard Time". Die norwegische Skurrilität hat durch die jüngsten Ausgaben auch die Aufmerksamkeit internationaler Medien erregt. Und wirft die Frage auf, ob es sich um ein einmaliges Phänomen handelt, wenn ein halbes Land gebannt im Fernsehen dabei zusieht, wie so gut wie nichts passiert? Oder ob sich auch dieses Format für das globalisierte Fernsehen eignet?

In einer Zeit, in der den Zuschauern aus allen Kanälen unerträgliche Doku-Soap-Kandidaten ins Gesicht brüllen, verspreche Slow TV einen angenehmen Gegensatz, so eine Verantwortliche der US-Produktionsfirma LMNO: "Hier kann man sich einfach zurücklehnen und erholen". Aus Deutschland sind noch keine Übernahmepläne bekannt. Allerdings könnten experimentierfreudige Programmmacher immerhin auf den Kultcharakter von Formaten wie der BR-Spacenight oder der ebenfalls recht geruhsamen Malschule von Bob Ross verweisen. In der ARD laufen "Die schönsten Bahnstrecken" seit langem "als so genanntes Füllprogramm", 3Sat lässt morgens das Wetter im Alpenpanorama vorbeirieseln. Andererseits: der Sender "Bahn TV" ist sang-, klang- und zuschauerlos in der Versenkung verschwunden.

Erfolg garantiert Slow TV wohl kaum. Eine australische Website, die den Trend vor einigen Wochen ihren Lesern vorstellte und mit den Worten "Warum sollte das nicht auch in Australien funktionieren" um Ideen für eine einheimische Umsetzung bat, bekam bislang keinen einzigen Kommentar. Vielleicht aber nehmen sich die Leser auch einfach nur ein Beispiel und lassen sich Zeit. Viel Zeit.

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