Olympia-Dokumentation auf Arte:O Sport, du Göttergabe

Kann man die Leistung eines Gedichts in Zentimetern messen? Von 1912 bis 1948 waren auch Malerei, Musik, Architektur und Literatur olympische Disziplinen. Wie sich Sport und Kultur auf diese Weise annäherten, zeigt eine Dokumentation auf Arte.

Gerhard Matzig

Ein zeitgenössischer Sportfunktionär, dem man eigentlich fast jede Schandtat zutraut (sagen wir mal: einer wie Sepp Blatter), ist gegen den Neuschöpfer der Olympischen Spiele in gewisser Weise der reinste Tugendbold. Pierre de Coubertin, der 1894 das Internationale Olympische Komitee (IOK) gründete und sich gleich mal selbst zum Generalsekretär berief, war vor genau 100 Jahren jedenfalls so frei, sich selbst die Goldmedaille zu verleihen. Und zwar in der Wettkampf-Disziplin "Literatur". Das war bei den Spielen 1912 in Stockholm.

Feuer und Flamme für die Kunst Ð Ein olympischer Wettlauf

Um eine Schönheit bereichert: Das Bild zeigt die Skulptur "Der schwebende Basketballer" von George Triggs.

(Foto: SWR/Filmtank)

Nach einer auch selbst sehr literarisch anmutenden Idee des kunstsinnigen Barons de Coubertin, der noch im späten 19. Jahrhundert die Spiele nach antikem Vorbild für die moderne Gesellschaft reanimiert hatte, sollte man von 1912 an auch in den Disziplinen Malerei, Bildhauerei, Musik, Literatur und Architektur Gold, Silber oder Bronze erringen können. Dumm nur, dass die Schweden nicht begeistert waren von der Idee, die Sportwettbewerbe um solche der Künste zu erweitern. Sie glaubten auch nicht, dass es genug Bewerber geben könne und bezweifelten obendrein, dass man die Sphären der Kunst objektiv würde beurteilen können. Kann man die Leistung eines Gedichtes in Zentimetern oder Sekunden bemessen?

Coubertin setzte sich aber durch - unter anderem mit einer in Richtung Schweden abgegebenen Bemerkung, die eigentlich auch Blatter gefallen müsste in ihrer ausgefeilten Diplomatie. Coubertin schrieb " . . . dann gibt es Krieg". Die friedfertigen Schweden akzeptierten schließlich: Die Kunst war im Rennen. Aber es mangelte nun an ernsthaften Wettbewerbern, weshalb Coubertin unter dem Pseudonym Georges Hohrod / M. Eschenbach das hübsche Gedicht "Ode an den Sport" einreichte. Und weil das Gedicht so perfekt den Geist der Olympischen Kunstspiele spiegelte und so vortrefflich für die ganzheitliche, die Kunst und den Sport gleichermaßen bedenkende Olympia-Idee Coubertins werben konnte, befand der Juror Coubertin, dass der heimliche Autor Coubertin mindestens die Goldmedaille verdient habe.

Sehnsucht nach Tempo und Dynamik

Er hatte gedichtet: "O Sport, Du Göttergabe, du Lebenselixier! / Der fröhlichen Lichtstrahl wirft in die arbeitsschwere Zeit, / Der du ein Bote bist der längst vergangenen Tage". Darum ging es Coubertin: Er wollte die längst vergangenen Tage möglichst vollständig in die Moderne übersetzen. Und in der Antike waren die musischen Wettbewerbe in der Gesangs- oder Dichtkunst nicht weniger wichtig als die athletischen Konkurrenzen.

Dass aber erst von 1912 an (und dann bis 1948 in London) Maler oder Dichter an den Spielen teilnehmen durften, ist kein Zufall. Der gründlich dokumentierende Film, den Alexa Oona Schulz über diese ungewöhnlich kunstsinnige Ära der Spiele erarbeitet hat, macht sich viel Mühe, diesen Zusammenhang zu erhellen. Denn es ist die Moderne und ihre Sehnsucht nach Tempo und Dynamik, die den Sport für die Kunstschaffenden so interessant macht. "Wir erklären", so die Futuristen in einem Manifest, "dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit." Das könnte ein erfolgreicher 100-Meter-Sprinter nicht besser ausdrücken.

So entstanden damals (und seither immer wieder) Gemälde voller Rugbyspieler oder Jockeys, porträtiert wurden Boxer - und dem Fußball wurden Romane gewidmet. Ein zeitgenössisches Gedicht des Lyrikers Albert Ostermaier heißt "Ode an Kahn" - gemeint ist der ehemalige Nationaltorwart Oliver Kahn. Aber auch der Verfasser Ostermaier ist ein fähiger Keeper. Das hätte Coubertin gefallen: Er forderte, dass die Sportler Künstler und die Künstler Sportler sein sollten. Denn Körper und Geist seien eins. Schade eigentlich, dass sie wieder relativ entzweit erscheinen.

Feuer und Flamme für die Kunst - Ein olympischer Wettlauf, Arte, Mittwoch, 21.50 Uhr

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