New Yorker zum 90.:Unernst, aber kein Witzblatt

Aktuelle Jubiläumsausgabe des New Yorker.

Smartphone statt Monokel und Afro statt Zylinder: die aktuelle Jubiläumsausgabe des New Yorker.

(Foto: The New Yorker)

Als vor 90 Jahren die erste Ausgabe des "New Yorker" erschien, war sie ein wirtschaftlicher Reinfall. Ausgerechnet eine Klatschgeschichte begründete schließlich die Popularität des elitären Magazins - das sich über die Provinzdeppen erheben wollte, die New York im Rest Amerikas vermutete.

Von Willi Winkler

Vor ziemlich genau neunzig Jahren, am 21. Februar 1925, erschien der erste New Yorker. Zum Jubiläum kommt die Zeitschrift mit einer Doppelnummer und neun verschiedenen Titelbildern heraus, alle Variationen des allerersten von Eustace Tilley, das einen monokeltragenden Dandy zeigte.

Da der Februar auch der Black History Month ist, gibt es etwa einen schwarzen Gentleman, und weil die Zeiten so modern sind, hört er über einen Knopf im Ohr irgendeine unerhörte Musik, während er sich ein Lesegerät vor die Nase hält. Immerhin, so heiter nimmt man die allgegenwärtige Krise doch, flattert ein bunter Schmetterling auf den Käufer zu.

Krise? Können andere besser. Der New Republic ist gerade passend zum Hundertjährigen von seiner Redaktion verlassen worden. Links und rechts wird gespart, entkernt, eingedampft.

Natürlich kriselt es auch beim New Yorker gewaltig, aber das ist nicht neu. Die Krise ist genau genommen bereits neunzig Jahre alt. Im Jubiläumsheft berichtet der Schriftsteller Ian Frazier in einer brillanten historischen Reportage, wie damals alles anfing, alles ganz schlimm wurde und sich dann alles zum Guten, zum Besten und überhaupt zum Glück wendete.

Harold Ross, der als Soldat für die Armeezeitung Stars & Stripes gearbeitet hatte, wünschte sich ein urbanes Magazin, das unernst, aber kein Witzblatt sein sollte. Einen gewissen Anspruch sollte es pflegen, Stil zeigen, also eher britisch in der Anmutung sein oder doch mehr ostküstenamerikanisch als so provinzdeppenhaft, wie man sich von New York aus den Rest Amerikas vorstellte.

Zusammen mit Freunden brachten Ross und seine Frau ein Startkapital von 46 000 Dollar auf, und so gingen sie an die Kioske und fast auf der Stelle ein. Als der Sommer kam, war die Auflage von knapp 15 000 auf 2719 verkaufte Exemplare gesunken.

Das kesse Manifest einer Jugend

Ross wollte aufgeben, aber er wollte das Magazin doch behalten. Sein Freund Raoul Fleischmann, der ein Vermögen mit Hefe gemacht hatte, spendierte 60 000 Dollar für eine Werbekampagne. Doch als weit wichtiger erwies sich ein Artikel, der im November 1925 mit der sagenhaft langweiligen Überschrift "Why We Go to Cabarets: A Post-Debutante Explains" erschien.

Es handelte sich dabei nicht um eine Kurzgeschichte, es war auch keine jener Reportagen, für die das Magazin Jahrzehnte später berühmt wurde, sondern das kesse Manifest einer Jugend, die sich gegen die Bevormundung der Älteren zur Wehr setzte.

Die Autorin weist die Behauptung zurück, dass die jüngere Generation die sieben Todsünden erfunden habe, gibt aber gern zu, dass ihr und ihresgleichen "die Unterstellung insgeheim schmeichelt, wir wären pittoresk verwahrlost".

Mit einem gewissen Recht, mit dem Recht des Oberschichtmädchens, beklagt sich die Autorin, dass sie diese Partys satt habe, bei denen die langweiligen Junggesellen herumstehen und sich eine Tanzpartnerin aussuchen können. "Wir halten uns an die Leute, die wir attraktiv finden", lautet die Botschaft dieses kuriosen Manifests.

Hollywood bot 50 000 Dollar für die Filmrechte

Der vergleichsweise kurze Beitrag stammte von einer Ellin Mackay, 22 zum Zeitpunkt des Erscheinens, einer der besten Partien, die in den Roaring Twenties in New York überhaupt zu machen war. Ihr Großvater hatte in Kalifornien eine riesige Silbermine entdeckt, ihrem Vater gehörte die damals größte Telegraphengesellschaft, ihrer Familie gehört noch heute, wie Frazier herausgefunden hat, ein riesenhaftes Mausoleum, das beheizt wird und deshalb einen eigenen Stromzähler braucht.

Selbstverständlich besaß die Familie Anwesen in London und Paris und verkehrte in royalen Kreisen. Und dann wandte sich die Tochter öffentlich gegen die Verheiratung an einen passenden Junggesellen. Schlimmer noch: Die Tochter eines aufgestiegenen, selbstverständlich katholischen Iren hatte sich in einen Juden verliebt und brannte mit ihm durch.

Israel Isidor Baline war 1888 in Sibirien zur Welt gekommen und mit seinen Eltern vor den russischen Pogromen geflohen. Als armer Einwanderer musste er sich sein Geld groschenweise verdienen; für die Mackays war er der "Zeitungsjunge". Wie später Danny Kaye, Bob Dylan oder Jon Stewart anglisierte auch Baline im antisemitischen Amerika seinen Namen und wurde als Irving Berlin der erfolgreichste Komponist der amerikanischen Unterhaltungsmusik.

Zuerst versuchten sie ihre Liebschaft geheim zu halten, der Vater schickte seine Tochter nach Europa, doch Berlin folgte ihr übers Radio, schickte ihr Lieder wie Always, die er für sie geschrieben hatte. Ganz New York sprach von diesem Skandal, und halb New York kaufte den New Yorker, in dem sich Ellin Mackay zu einem typischen Produkt einer neuen Generation erklärt hatte.

Ihr Artikel wurde nur Tage später auf dem New York Times-Titel aufgegriffen; Hollywood bot 50 000 Dollar - mehr als das Gründungskapital - für die Filmrechte. Noch wichtiger: Plötzlich waren die großen Kaufhäuser an dem kleinen Magazin interessiert. 1930 hatte der New Yorker eine Auflage von 100 000 erreicht. Ein Exemplar ging an Ellin Mackay; Harold Ross schenkte ihr ein Abonnement auf Lebenszeit.

Ellin Mackay pfiff noch einmal auf ihre Familie

In seinem Buch über die Prohibition in New York, akkurat Dry Manhattan betitelt, behauptet Michael A. Lerner, dass der Erfolg auch damit zusammenhing, dass eine ausgehwütige Jugend sich im New Yorker wiederfand. Man wollte wissen, wo es so lustig zuging, dass dort auch illegaler Alkoholausschank vermutet werden konnte. Harold Ross willfahrte und stattete seine Reporter mit einem Spesenkonto aus, das ihnen Recherchen in den Nachtclubs ermöglichte.

Mitten in dieser Aufregung pfiff Ellin Mackay noch einmal auf ihre Familie. Zum ersten Mal in ihrem Leben stieg sie in die U-Bahn, fuhr zum Standesamt, heiratete Irving Berlin und wurde von ihrem Vater verstoßen. Das junge Paar nahm das nächste Schiff nach Europa; nach sechs Monaten kam Ellin schwanger zurück. Berlin überschrieb ihr die Tantiemen seiner Lieder Always und Remember.

Die Legende, dass Berlin nach dem Börsencrash von 1929 seinen unfreiwilligen Schwiegervater mit Geld stützen musste, kann Frazier leider nicht bestätigen. Aber richtig ist, dass es eine Klatschgeschichte war, die das elitäre Magazin New Yorker am Leben erhalten hat.

"Genau wegen dieses Mannes"

Ob sie das Durchbrennen je bereut habe, wurde Ellin Berlin einmal von ihrer Tochter gefragt. Die Antwort könnte genauso gut aus einer Kurzgeschichte von John Updike stammen, später der beständigste Beiträger zum New Yorker. Doch, erwiderte sie, sie habe Irving Berlin einmal beobachtet, habe gesehen, dass er einen Hut trug, den sie nicht leiden konnte, wie er also mit diesem Hut unter einer Laterne stand, und der Hut sich auf und ab bewegte, weil Berlin an einem Kaugummi kaute. Und wegen dieses Mannes sollte sie alles aufgeben? "Ja, sagte sie sich, genau wegen dieses Mannes."

Der Schriftsteller Nicholson Baker zählt übrigens den New Yorker neben dem iPhone und Billy Wilders Manche mögen's heiß zu den drei großen Beiträgen, die Amerika zur Weltzivilisation geleistet hat.

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