Netflix:Letzte Stufe

"The Staircase" aus dem Jahr 2004 war eine der ersten True-Crime-Dokuserien - lange bevor das Genre zum großen Ding wurde. Jetzt ist der Stoff über einen Mordprozess mit neuen Folgen im Streaming-Programm zu sehen, für das er von Anfang an wie gemacht schien.

Von Claudia Tieschky

Das Zeitvergehen passiert ja ununterbrochen, mit etwas Gedankenlosigkeit kann man es schnell aus den Augen verlieren. Jedenfalls muss man sich erst klar machen, dass es Netflix noch gar nicht gab, oder jedenfalls nicht als globalen Versorger, als der französische Regisseur Jean-Xavier de Lestrade im Jahr 2002 den Gerichtsprozess in Durham, North Carolina, gegen den Schriftsteller Michael Peterson zu einer Doku-Serie verarbeitete. Peterson stand im Verdacht, seine Ehefrau Kathleen getötet zu haben, und Lestrade wurde zum idealen Beobachter. Ideal, weil er das Genre beherrscht - 2002 bekam er für die Prozessdoku Ein Mörder nach Maß den Oscar. Ideal auch, weil er Peterson, dem Anwalt David Rudolf, den Ermittlern und dem Fortgang des Prozesses genug Raum gab, um alle Widersprüche offenzulegen, die wichtig sind für eine Einschätzung jenes Moments, zu dem The Staircase immer wieder zurückkommt. Der Moment am 9. Dezember 2001, in dem Peterson den Notruf wählt und mit wimmernder, überschnappender Stimme schildert, wie seine Frau am Fuß der Treppe in ihrem Blut liegt.

Dezember 2001: Der Schriftsteller schildert, wie seine Frau am Fuß der Treppe in ihrem Blut liegt

Petersons Bisexualität wird irgendwann offengelegt - geriet das Paar darüber Streit? Da ist die Tatsache, dass es im Freundeskreis einen ähnlichen tödlichen Treppenfall gab. Man kann sich kein Bild machen und ist fasziniert von der Undurchsichtigkeit.

Lestrades 2004 veröffentlichte, preisgekrönte Dokuserie mit ihren zunächst acht Teilen würde man heute dem extrem gefragten True-Crime Genre zurechnen (Serial, Making a Murderer). Damals lief The Staircase als Nischenprodukt im linearen Fernsehen (in Deutschland bei Arte), das mit dem Format natürlich ein bisschen überfordert war. Es wirkte sperrig, ungewöhnlich, experimentell. Das alles muss man sagen, weil Lestrade dranblieb, zwei weitere Episoden drehte und jetzt auch das Ende des wiederaufgenommenen Prozesses verfolgte. Neben dem französischen Canal + stieg Netflix ein und so kommt es, dass The Staircase jetzt mit drei neuen Folgen auf einer dieser Streamingplattformen läuft, für die es von Anfang an wie gemacht war, nur viele Jahre zu früh.

Lestrade fügt nun eine Art Epilog an. Peterson, zu lebenslanger Haft verurteilt, ist nach acht Jahren Gefängnis auf freiem Fuß und das Urteil gegen ihn aufgehoben worden, ein Sachverständiger hat falsch testiert, überhaupt steht von nun das Justizsystem unter Verdacht, am Ende übrigens, in einem Wutausbruch der Schwester der Toten auch einmal das Filmprojekt selbst. Über das Problem von Nähe und Distanz hat Lestrade neulich in Le Monde gesprochen; zuletzt habe Peterson die Crew immer wieder gefragt: Was soll ich tun?

Peterson ist da 71 Jahre alt. Er sagt, dass er nach seiner Entlassung ständig in Tränen ausbrach, vollkommen unkontrollierbar. Er dachte, das sei alles verloren, seine Welt, seine Kinder, die Kunst, die Musik, aber nein, alles ist da. Lestrade zeigt ihn beim Autofahren, zeigt Landschaften, Straßen, man sieht Peterson gewissermaßen beim Schauen zu. Er kann nun einen neuen Prozess mit unwägbarem Ende durchstehen oder sich schuldig bekennen in dem Kalkül, dass jede Strafe, die verhängt werden kann, schon durch die Gefängniszeit abgegolten ist. Wieder lässt Lestrade mit großer Wucht und Ernsthaftigkeit jede Wendung wirken. Und Peterson, er steht wie eh und je zwischen Schuld und Unschuld.

The Staircase, von Freitag an bei Netflix.

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