Netflix Doku-Drama:Wenn jeder an seine eigene Wahrheit glaubt

Casting Jon Benét

"Casting JonBenét": Hannah Cagwin in der Rolle der ermordeten Schönheitskönigin JonBenét Ramsey.

(Foto: Netflix / Michael Latham)

"Casting JonBénet" ergründet den Tod einer sechsjährigen Schönheitskönigin. Das Netflix-Projekt ist ein Hybrid aus Dokumentarfilm und Fiktion - und ein wagemutiges Sozialexperiment.

Von Sara Maria Behbehani

Am Morgen des 26. Dezember 1996 wurde JonBenét im Weinkeller ihrer Eltern gefunden, ermordet und eingewickelt in ihre weiße Lieblingsdecke. Der Tod des Kinderstars wurde zu einem der meist beachteten Morde in den USA. Es gab Debatten darüber, ob es Schönheitswettbewerbe überhaupt für Kinder geben darf, wenn die Mädchen dabei mit sechs Jahren irgendwo zwischen Prinzessin und Sexobjekt stehen. Die Eltern wurden öffentlich für das Leben ihrer Tochter an den Pranger gestellt. Einige machten sie sogar für ihren Tod verantwortlich. Eine Fernsehdokumentation von 2016 glaubte hingegen, den damals neunjährigen Bruder als Täter identifiziert zu haben. Daraufhin reichte dieser eine 750-Millionen-Dollar-Klage ein.

Bis heute ist unklar, was damals tatsächlich geschehen sein könnte: ein Sexualverbrechen, eine Entführung mit tödlichem Ausgang oder ein vertuschter Unfall? Entsprechend viele Verdächtige gibt es, darunter ein Pädophiler, ein Bekannter der Familie, der es auf das Geld des Vaters John Ramsey abgesehen haben soll, sowie die Familienmitglieder selbst.

Ein großes, und ja, auch sehr fragwürdiges, soziales Experiment

Die Regisseurin Kitty Green stellt deshalb eine ebenso sinnlose wie wagemutige Frage an den Anfang ihres Netflix-Dokudramas: "Wissen Sie, wer JonBenét Ramsey umgebracht hat?" Sinnlos ist die Frage, weil niemand von den Befragten die Antwort kennt, "Casting JonBénet" sie also schuldig bleiben wird. Wagemutig deshalb, weil es darum auch nicht geht.

Greens Film ist vielmehr ein großes, und ja, auch sehr fragwürdiges soziales Experiment als eine echte Doku. Die Australierin sucht nicht nach Wahrheiten. Und schon gar nicht nach der Wahrheit. Und ebenso wenig zeigt sie Realität im klassischen Sinn. Tatsächlich ist im Film kein einziges Bild der realen JonBenét oder ihrer Eltern zu sehen. Stattdessen stellen die Bewohner von Boulder, Colorado - JonBenéts Heimatstadt - ihre verschiedenen Versionen dessen dar, was sich zugetragen hat. Und das alles - darin zeigt sich der Wahnsinn des Projekts - während sie sich offiziell für Rollen in einem Spielfilm über den Fall bewerben.

Über das Konzept des Films waren sie dabei offenbar informiert - zumindest deuten die Aussagen der Regisseurin darauf hin. Wie viel genau sie wussten, bleibt unklar. Die Menschen wurden für die Rollen der Familienmitglieder gecastet, sollten aber auch improvisieren und ihre eigenen persönlichen Erfahrungen mit einbringen.

Das Resultat ist verblüffend - und beängstigend: Auf einmal lassen sich ganz normale Personen vor der Kamera zu wilden Annahmen hinreißen. Eine der Interviewten beschreibt, wie JonBenéts Mutter nachts aufgestanden sei, um nach ihrer Tochter zu sehen. In JonBenéts Zimmer soll sie dann ihren Mann dabei gesehen haben, wie er ihr Kind sexuell missbraucht. Und natürlich, erklärt die Frau überzeugt, wäre Patsy Ramsey dann wütend geworden und hätte mit einem Golfschläger JonBenét an Stelle ihres Mannes John getroffen - und sie so erschlagen. Alles reine Spekulation.

Ein Mann stellt die Theorie auf, dass JonBenét von ihrem Bruder getötet wurde und meint über den Vater: "John hatte schon seine Tochter verloren und war dabei, seinen Sohn zu verlieren." Er kommt zu dem Ergebnis, dass man als Elternteil nun mal sein Kind schützen würde - und der Vater deshalb die Wahrheit verschleiere.

Ein Mosaik verschiedenster Theorien

So zeigt der Film ein Mosaik verschiedenster Theorien über den Tod JonBénets. Sätze von Menschen, die sich mal widersprechen, mal aufeinander zu antworten scheinen, als wären sie Teil einer Unterhaltung. "Es war die Mutter." "Wieso? Sie hatte doch kein Motiv." Über den Sohn heißt es: "Ein Neunjähriger könnte niemals so einen Mord begehen."

Reine Vermutungen also, angestellt von echten Menschen, mit ihrer eigenen Geschichte, ihren eigenen Ängsten, ihrer eigenen Trauer. Deutlich wird in ihren Aussagen, dass die Menschen in Boulder den Mord an JonBenét nicht vergessen haben. Fassungslosigkeit, Trauer und Wut sind auch 20 Jahre später noch präsent. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, wie leicht sich Menschen ihre eigene Meinung bilden und sie für die Wahrheit halten. Selbst dann, wenn sie genau wissen, dass es eine Lösung dieses Mordfalls wohl nicht mehr geben wird - und dass das, was sie sagen und als Wahrheit deklarieren, keine ist.

All das wird gebrochen durch die Szenen des tatsächlichen Castings für den vermeintlichen Spielfilm. Interviewte Menschen, die als Schauspieler in Rollen schlüpfen. Auch das geschieht vor der Kamera und zeigt, wie ein bestehendes Skript zu ganz unterschiedlichen Wirklichkeiten führen kann. Je nachdem, welche Mutmaßungen die Interviewten zu dem Fall zuvor angestellt haben, und wen sie als Schuldigen ansahen, geben sie der Rolle, für die sie vorsprechen, ein anderes Gesicht.

Besonders eindrücklich sieht man das bei vier Jungen, die für die Rolle von JonBénets Bruder gecastet werden. Jeder von ihnen sitzt im Schlafanzug auf einem Stuhl im Kinderzimmer und sagt diesen einen Satz: "Wenn man jemandem ein Geheimnis verrät, ist es kein Geheimnis mehr." Aber je nachdem, wer gerade spricht, transportiert dieser Satz schüchterne Traurigkeit, eine verspielte Kindlichkeit oder aber verstörende Grausamkeit.

Dieser Film ist nicht auf der Suche nach der Wahrheit

Und auch hier ist das keineswegs unproblematisch: Die fiktiven Spielfilmszenen zeigen einmal mehr, dass dieser Film keineswegs versucht, die Wahrheit abzubilden - auch, wenn die Menschen vielleicht meinen, diese für sich selbst herausgefunden zu haben.

Irgendwann sieht man einen Mann in der Rolle eines Pädophilen. Mit leerem Blick starrt er aus seiner Gefängniszelle hinaus und offenbart seine Liebe zu JonBénet. "Es verfolgt mich noch", gesteht er mit brüchiger Stimme, während er zusammengesunken auf der Pritsche seines dunklen Gefängniszimmers sitzt.

In der Realität ist das wahrscheinlich nie so passiert. Und das macht diese Szene so wichtig. Denn sie zeigt, dass jede Aussage über Schuld und Unschuld nichts weiter ist als eine Möglichkeit von vielen. Genau wie jede Szene, die Kitty Green im Format eines Spielfilms in ihr Drama einfügt. Was der damals tatsächlich verhaftete Mann in seiner Zelle gesagt haben könnte, bleibt Spekulation. Der Mann hatte den Mord gestanden. Später entpuppte sich seine Aussage als Lüge.

Das ist es, was "Casting JonBenét" zum ebenso kraftvollen wie provokativen künstlerischen Experiment macht: Der Film blickt nicht so sehr auf die reale JonBenét und ihre Familie, als vielmehr auf die menschliche Wesensart selbst. Er zeigt die menschlichen Reaktionen auf mediale Aufregung, Unsicherheit und Tod. Vor allem aber transportiert er eine wichtige Botschaft: Jeder glaubt an seine ganz eigene Wahrheit. Auch wenn keine dieser Wahrheiten je Wirklichkeit gewesen sein muss.

Casting JonBenét, Netflix, ab dem 28. April 2017

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