Nachtkritik zu Anne Will:"Das Ganze ist ein Kuhhandel"

Anne Will

Lässt diskutieren, wer wen wie sehr braucht: Anne Will.

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Kuscht Merkel vor Erdoğan, um den Flüchtlingsdeal nicht zu gefährden? Ja, findet die deutsche Amnesty-Chefin. Alternativen haben die Diskutanten bei Anne Will nicht zu bieten - nur EU-Parlamentspräsident Schulz fällt etwas ein.

TV-Kritik von Hanna Spanhel

Seit dem EU-Deal mit der Türkei, scheint es, verschärft sich das harsche Vorgehen der türkischen Regierung gegen Journalisten und Oppositionelle. Kritik an diesem Vorgehen des türkischen Präsidenten Recep Tayip Erdoğan gibt es von europäischer Seite kaum. Aus Angst, der Zusammenarbeit in der Flüchtlingsthematik zu schaden? "Ist der Preis für das Abkommen zu hoch?", fragt daher Anne Will am Sonntagabend in ihrer Talksendung. Ist die EU abhängig von Erdoğan?

Die Frage scheint wenig kontrovers: Immerhin 80 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass Merkel zu viel Rücksicht auf Erdoğan nimmt - das zeigte das jüngste Politbarometer des ZDF vor dem Türkei-Besuch der Bundeskanzlerin am vergangenen Samstag. Eine klare Ansage an Merkel? Die blieben die Diskutanten der Sendung den Zuschauern schuldig. Zu Gast waren Kanzleramtschef Peter Altmaier, Grünen-Chef Cem Özdemir, der AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroğlu, Amnesty-Deutschland-Generalsekretärin Selmin Çalışkan und der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz.

Die Runde findet wenig neue Argumente

"Die Türkei ist auf dem Weg in einen autoritären Staat", sagt SPD-Politiker Schulz. Wer dazu aufrufe, Beleidigungen gegen den Präsidenten zu melden, verspiele "jeden internationalen Kredit". Aus der Talkrunde kommt zustimmendes Kopfnicken von fast allen Seiten. Das Thema, das zeigt sich hier, bietet wenig Diskussionsstoff - und die Runde findet wenig neue Argumente.

Merkel nehme keine Rücksicht, findet Kanzleramts-Chef Altmaier. Natürlich. Merkel habe doch deutlich gemacht, dass sie sich Sorgen mache, über den Zustand der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei, betont Kanzleramtsminister Altmaier. Bei ihrem Besuch im türkischen Gaziantep am Samstag hatte Merkel, so verteidigte sie sich selbst, "Probleme angesprochen". Warum also die Diskussion?

Zu sanft, findet Grünen-Chef Cem Özdemir, diese Reaktion. "Menschenrechte sind unverzichtbar, das muss man auch mal klar sagen." Selbst bei Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, klingt das nur ein bisschen schärfer. "Merkel kritisiert Erdoğan ja nicht", sagt sie. Und fordert: Die Bundeskanzlerin hätte sich mit Aktivisten treffen müssen, mit Oppositionsführern, zum Beispiel dem Journalisten Can Dündar, oder mit dem Chef der prokurdischen Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtaş. Zustimmung, Kopfnicken von Schulz und Özdemir. Dafür müsse bei einem Besuch ja wohl Zeit sein, sagt der Grünen-Chef.

Drei Stimmen also, die die Lage der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei anprangern, und ein Altmaier, der sich mit den anderen darin "grundsätzlich einig ist", dass diese Punkte eingefordert werden müssen. Nur einer widerspricht - und wird so, wie soll es anders sein, zur einzigen Angriffsfläche: Mustafa Yeneroğlu. Der nämlich sieht gar kein Problem, was die Achtung der Menschenrechte in der Türkei angeht. "Mängel gibt es sicherlich, aber die gibt es auch in anderen Ländern, sagt Yeneroğlu. Zum Beispiel in Deutschland, wo Moscheen angegriffen und Flüchtlingsunterkünfte in Brand gesteckt würden. Ungerechtfertigt also, dass nun Deutschland so tue, als habe es die Menschenrechte für sich gepachtet.

Überhebt Deutschland sich moralisch?

Sitzt Deutschland also auf einem hohen moralischen Ross - braucht die Türkei gar keine Nachhilfe in Sachen Meinungsfreiheit? In Zeiten, in denen in dem Land mehr als 2000 Klagen gegen Journalisten und Regimekritiker laufen, stelle sich die Frage nicht, findet Cem Özdemir. Und weist Yeneroğlus Einwurf, dass es sich bei all diesen Fällen um Straftaten handele, scharf zurück: "Jeder Kritiker ist für Sie dann einfach ein Straftäter."

Wer auf Beleidigungen oder Kritik mit einer Staatsklage reagiere, pflichtet Martin Schulz bei, dessen Souveränität sei am Boden. Der habe Angst vor Machtverlust, oder einen Allmachtsanspruch. Dabei stand der türkische Präsident eigentlich einmal für Liberalisierung und Demokratisierung. Vielleicht habe man sich zu lange nicht mehr dafür interessiert, was in der Türkei passiert, mutmaßt Altmaier. Das Problem sei schließlich nicht neu, erklärt Çalışkan - die Abwärtsspirale habe schon mit den Gezi-Park-Protesten 2013 begonnen. Irgendwann, sagt CDU-Politiker Altmaier, hat die Flüchtlingsthematik den Blick wieder auf die Türkei gelenkt - und auf die Situation der Meinunsgfreiheit.

AKP-Politiker Yeneroğlu lässt sich nicht beirren. Arrogant nennt er die kritische Haltung der EU. Die Türkei habe in den vergangenen Monaten drei Millionen Menschen "das Leben gerettet" und empfange Flüchtlinge - im Gegensatz zu Deutschland - mit offenen Armen. Man habe sich an das Abkommen mit der EU gehalten: Nur noch knapp 6000 Menschen seien in den drei Wochen nach dem Deal von der Türkei aus nach Griechenland gekommen - in den drei Wochen zuvor waren es 27 000. "Man muss der Türkei mit Respekt begegnen", fordert Yeneroğlu.

Die EU brauche die Türkei mehr als andersherum, meint Erdoğan

Da blitzt sie also doch auf, die Frage nach den Abhängigkeiten. Schließlich hat die EU den Türken im Zuge des Deals Visafreiheiten in Aussicht gestellt - und das, obwohl die Türkei erst die Hälfte der 72 Bedingungen dafür umgesetzt hat. "Nutzt die türkische Regierung die Situation aus?", fragt Anne Will in die Runde. Und schiebt eine TV-Aufzeichnung vom vergangenen Dienstag nach, in der Erdoğan erklärt: Die EU brauche die Türkei mehr als andersherum. Was nun wiederum Martin Schulz dazu veranlasst, der Türkei - und Yeneroğlu - Arroganz vorzuwerfen. Er erinnert an die unterkühlten Beziehungen der Türkei zu ihren Nachbarn, Israel oder den USA: "Der einzige verlässliche Partner ist die EU."

Darum geht es eigentlich: Um die Frage, wer wen wie sehr braucht in diesem Deal. Darum, wessen Drohungen stärker wirken. "Wenn die Türkei ihre Hausaufgaben macht, werden wir auch unser Versprechen einlösen", sagt Altmaier und will wohl demonstrieren, dass man der Türkei nichts schenkt. Keine Visafreiheit ohne Erfüllung der Voraussetzungen. Die fehlenden Bedingungen - auf der Liste steht auch das Recht auf einen fairen Prozess und freie Meinungsäußerung - wolle die Türkei schließlich bis Juni umsetzen. Und sich auch an die Vereinbarungen der Genfer Konvention halten, die sie zugesagt haben?

Wohl kaum, klagen Özdemir und Amnesty-Generalsekretärin Çalışkan. Die Türkei halte sich nicht an die Abmachung, schon jetzt nicht, und die EU schaue wieder weg. Ein schmutziger Deal, sind sich der Grünen-Chef und die Aktivistin einig. Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen hätten gezeigt, dass Tausende syrische Flüchtlinge an der Grenze zur Türkei abgewiesen oder später zurückgeschickt würden - ein faires Verfahren ist das nicht.

"Die Menschen werden behandelt wie Vieh. Das Ganze ist ein Kuhhandel", sagt Çalışkan. Auch den langfristigen Erfolg des Deals hält sie für fraglich: "Die Flüchtlingszahlen werden eine Weile runtergehen, und dann öffnet sich eine neue Fluchtroute." Verlagere sich die Route über Libyen und das Mittelmeer, spiele man den Schleppern erst recht in die Hände.

Was also bleibt nach einer Stunde Diskussion? Vielleicht könnte Merkel das nächste Mal Oppositionsführer treffen. Ist das alles? Ist der Preis für das Abkommen mit der Türkei zu hoch? Vielleicht ja, das klingt zwischen den Zeilen heraus. Doch was ist die Alternative? Eine Frage, auf die keiner in der Runde eine Antwort zu kennen scheint.

Nur Martin Schulz deutet schließlich an, was es bräuchte, damit die Türkei die EU nicht so unter Druck setzen könnte: Europäische Solidarität. "Das Abkommen mit der Türkei hat eine Ursache. Und das ist die Nichtteilhabe von mehr als 20 EU-Staaten an der Verteilung der Flüchtlinge."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: