Nach dem Militärputsch in der Türkei:Der Erdoğan aus Solingen

Anne Will

Anne Will liefert zum Putsch in der Türkei eine enttäuschende Sendung. Ihre Gäste: Harald Kujat (ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr), Seyran Ateş (Rechtsanwältin und Autorin), Norbert Röttgen (CDU), Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) und Fatih Zingal

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Anne Will unterbricht ihre Sommerpause, doch die Sendung zum Putsch in der Türkei liefert kaum Erkenntnisse. Sie hat die falschen Leute eingeladen.

TV-Kritik von Benedikt Peters

Grundsätzlich ist es natürlich verdienstvoll, wenn jemand angesichts weltpolitischer Wendungen den Urlaub unterbricht. Die TV-Moderatorin Anne Will hat dies binnen weniger Wochen nun schon zum zweiten Mal getan: Als die Briten für den EU-Austritt stimmten, machte sie Pause von der Sommerpause und organisierte binnen drei Tagen eine Diskussion zum Brexit.

Dieses Mal hatte die Anne-Will-Redaktion noch weniger Zeit. Die Nachricht vom Putschversuch in der Türkei verbreitete sich schließlich erst in der Nacht zu Samstag, und es mag dieser kurzen Zeit geschuldet gewesen sein, dass das Ergebnis eine enttäuschende Talkrunde ist. Nach wenigen Minuten beschleicht den Zuschauer das Gefühl: Dafür hätte Will den Urlaub nicht unterbrechen müssen.

Dies liegt an einem Widerspruch, der die gesamte Sendung durchzieht. Da ist einerseits die sehr ambitionierte Leitfrage: "Putschversuch in der Türkei - Was macht Erdoğan jetzt?". Und andererseits sitzen in den Sesseln Gäste, die darauf keine Antwort haben oder haben können.

Was Erdoğan jetzt macht, weiß streng genommen ja höchstens einer, nämlich Erdoğan selbst. Dass der türkische Präsident zwei Tage, nachdem ihn Soldaten aus dem Amt werfen wollten, aber anderes zu tun hat, als in deutschen Talkshows aufzutreten, kann man ihm nicht vorwerfen. Auch Anne Wills Redaktion kann nichts dafür. Hilfreich wäre allerdings ein Gast gewesen, der nah dran ist an der türkischen Regierung: Ein Berater vielleicht oder ein Botschafter.

Der Einblick des Gastes in die türkischen Regierungsgeschäfte? Überschaubar

Den Erdoğan in der Runde gibt stattdessen Fatih Zingal. Zingal arbeitet als Rechtsanwalt in Solingen. Eingeladen ist er, weil er im Nebenjob stellvertretender Vorsitzender der "Union Europäisch-Türkischer Demokraten" ist. Der Verein steht zwar Erdoğans Partei AKP nahe. Zingals Einblick in die türkischen Regierungsgeschäfte dürfte aber überschaubar sein. Von Ankara ist es ziemlich weit nach Solingen.

Und so verlegt sich Zingal darauf, die längst bekannten Maßnahmen, die Erdoğan nach dem Putsch ergriffen hat, zu rechtfertigen. Die Entlassung von knapp 2800 Richtern? "Nur eine Vorsichtsmaßnahme." Die martialische Rhetorik des Präsidenten? "Das darf man nicht überbewerten." Selbst dafür, dass Erdoğan ungeachtet der fast 300 Toten den Putschversuch als "Geschenk Gottes" bezeichnet hat, findet Zingal eine Rechtfertigung. Er habe das getan, "weil Parallelstrukturen demaskiert wurden". Zingal bezieht sich damit auf bisher unbelegte Vorwürfe, hinter den Vorgängen stecke die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen.

Zingal kommt aus dem Rechtfertigen kaum noch heraus, denn er sieht sich einer Übermacht Erdoğan-kritischer Gesprächspartner gegenüber. Sie besteht aus dem Grünen-Abgeordneten Cem Özdemir, dem CDU-Außenpolitikexperten Norbert Röttgen, der deutsch-türkischen Anwältin Seyran Ateş und Harald Kujat, dem ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr. Wie es aber mit der Türkei weitergeht, wissen die vier auch nicht. Alle äußern die Sorge, dass das Land nun noch weiter ins Autoritäre abdriftet. Alle sind sich auch darin einig, dass sie nicht an die Interpretation glauben, Erdoğan habe den Putsch inszeniert, um seine Macht zu stärken. Röttgen sagt, dies müsse man "in das Reich der Verschwörungstheorien verbannen". So weit, so langweilig, all das stand so oder so ähnlich schon in unzähligen Zeitungen.

Vom Bundeswehr-Mann hätte man gern gehört, wie man einen Putsch richtig macht

Der kritischste in der Runde ist erwartungsgemäß Cem Özdemir. Der Grünen-Politiker hatte bereits bei der Bundestagsresolution zum Völkermord an den Armeniern eine Führungsrolle eingenommen und war dafür von der türkischen Regierung geschmäht worden. Erdoğan wirft er vor, nun einen "zivilen Putsch" durchzuführen und seinerseits Parallelstrukturen aufzubauen. Rechtsanwältin Ateş spricht dann noch lange über die starke Polarisierung in der Türkei. Aber auch das ist zu dünn, um als Erkenntnis durchzugehen.

Dabei hätte es an manchen Punkten spannend werden können. Das deutet sich zum Beispiel an, als Kujat über den "dilettantischen" Versuch der Putschisten spricht. Diese hätten in Istanbul die falschen strategischen Punkte besetzt, auch der Beschuss des Parlamentsgebäudes in Ankara sei völlig sinnlos gewesen. Von dem ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr hätte man aus reiner Neugier gern gehört, wie der Putsch hätte erfolgreich sein können.

Das wäre schließlich eine Frage, die der Mann beurteilen könnte, anders als die Zukunft der Türkei. Anne Will aber stellt sie nicht. Und sie lässt auch viel zu wenig Zeit für ein weiteres Thema, über das Röttgen und Özdemir eine spannende Debatte hätten führen können: Wie soll sich die Bundesregierung nun gegenüber Erdoğan verhalten?

Antworten deuten sich an, als Özdemir (Ja) und Röttgen (Nein) darüber diskutieren, ob die Bundeswehrsoldaten die Militärbasis in İncirlik verlassen sollen, wenn Bundestagsabgeordnete sie weiterhin nicht besuchen dürfen. Oder, als Özdemir sagt: "Ein Land, das darüber diskutiert, die Todesstrafe wiedereinzuführen, kann überall Mitglied werden, aber nicht in der Europäischen Union." Es ist schade, dass es hier nur bei Andeutungen bleibt.

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