Mexiko: Kooperation mit Drogenbossen:"Was wollt ihr von uns?"

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Ein Appell der Verzweiflung: Die mexikanische Zeitung "El Diario" bietet Kriminellen ein Bündnis an, um weiteren Horror zu vermeiden.

Peter Burghardt

Luis Carlos Santiago Orozco war ein junger Mann mit Zopf und Kamera, erst 21 Jahre alt. Ein freundlicher Nachwuchsfotograf im mexikanischen Drogenkrieg.

Beerdigung von Luis Carlos Santiago Orozco: Nach dem Mord an dem Nachwuchsfotografen will die Zeitung El Diario mit den Drogenbossen kooperieren. (Foto: REUTERS)

Wenn er mit dem Team der Zeitung El Diario in seiner Heimat Ciudad Juarez an der US-Grenze zu den täglichen Verbrechen fuhr, dann hörte er gerne Musik, während der heiße Fahrwind durchs Fenster wehte. Am Freitag steuerte der Stipendiat nahe der Redaktion mit einem noch jüngeren Praktikanten ein Einkaufszentrum an, zum Mittagessen. Die Täter tauchten wie üblich in dieser gefährlichsten Stadt der Welt ohne Warnung auf, niemand half. Die Mörder schossen Santiago Orozco in den Kopf, er war sofort tot, sein Begleiter überlebte. Polizeireporterin Lucy Sosa eilte zu dem Tatort wie zu anderen Terminen dieser Art und fand ihren ermordeten Freund.

Danach hatte El Diario genug von dem Wahnsinn. "Was wollt ihr von uns?", fragte das Blatt in seiner Sonntagsausgabe auf der Titelseite. Es war ein offener Brief an die sogenannten Narcos, die Rauschgiftkartelle, die diesen wichtigen Übergang Richtung USA zu einem Schlachtfeld gemacht haben. "Wir wollen keine Toten mehr. Wir wollen keine Verletzten mehr und auch keine Einschüchterungen. Es ist unmöglich, unter diesen Bedingungen unsere Arbeit zu machen. Sagen Sie uns deshalb, was Sie von uns als Medium erwarten." Die Berichterstatter wollen wissen, "was wir publizieren sollen und was nicht." Denn: "Sie (die Narcos) sind im Moment de facto die Autoritäten in dieser Stadt", weil die Gesetzesvertreter nicht verhindern konnten, "dass unsere Kollegen fallen". Kurz gesagt: El Diario bietet den Kriminellen ein Bündnis an, um weiteren Horror zu vermeiden.

Ein Appell der Verzweiflung. 2008 war bereits ein anderer Journalist der seriösen Gazette umgebracht worden, Armando Rodríguez. Allein in diesem Jahr wurden in Mexiko elf Medienvertreter getötet, insgesamt starben in dem Gemetzel zwischen Dealerbanden, Polizei und Armee in den bisher vier Jahren des Präsidenten Felipe Calderón 28000 Menschen. Die Fronten sind dabei fließend, die Kartelle bekämpfen sich um Routen und Märkte. Auch staatliche Kräfte sind für Reporter oft mehr Gefahr als Schutz. Calderón schickte 50000 Soldaten in den Kampf und machte alles schlimmer.

Regierungssprecher Alejandro Poiré lehnte den Pakt ab, man könne mit Verbrechern nicht verhandeln, man dürfe ihnen keinen Waffenstillstand anbieten.

Luis Carlos Santiago Orozco wurde beerdigt wie so viele unschuldige Opfer vor ihm. Seine Kollegen trugen schwarze T-Shirts, darauf stand eine Frage: "Von wem sollen wir Justiz fordern?"

© SZ vom 22.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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