Angela Merkel bei "Anne Will":"Wir lassen uns nicht ein ums andere Mal über den Tisch ziehen"

Angela Merkel zu Gast bei Anne Will - die Bundeskanzlerin zeigt sich kämpferisch und in ihren Aussagen überraschend deutlich.

Viele Themen, ungewöhnlich deutliche Antworten: Angela Merkel bei Anne Will.

(Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Trump und G 7, Bamf-Skandal, der Fall Susanna - die Welt Angela Merkels ist in großer Unordnung. Bei Anne Will zeigt die Kanzlerin, dass sie zwar nicht für alles Lösungen hat, aber auf keinen Fall aufgeben möchte.

Von Stefan Braun

Außenpolitisch stürzt gerade die Welt in sich zusammen; innenpolitisch drücken Bamf-Skandal, Flüchtlingsdebatte und der Mord an einer 14-Jährigen auf die Seelen. Als Angela Merkel am Sonntagabend bei Anne Will ankommt, ist klar, dass dieses Gespräch kein Spaziergang sein wird. Was wird aus der Welt? Was wird aus Europa? Was aus der Flüchtlingspolitik? Und was aus Angela Merkel?

Beim TV-Talk geht es nicht um Petitessen, sondern um fundamentalste Fragen, die über Deutschlands nähere Zukunft und über Merkels politisches Schicksal entscheiden werden.

Dabei lässt sich eines früh feststellen: Die Kanzlerin sieht zwar erschöpft aus nach einem anstrengenden Transatlantikflug ohne anschließende Ruhepause. Aber sie wirkt nicht zögerlich oder unentschlossen, sondern will sich offenkundig in die bevorstehenden Kämpfe stürzen. Sie hat noch immer nicht den ganz großen Plan für Europa, aber sie weiß, dass es in den kommenden Monaten wie noch nie um die Einheit, die Stärke und die Rettung Europas gehen wird. Und sie hat verstanden, wie gefährlich die Debatte um die Flüchtlingspolitik für die Glaubwürdigkeit deutscher Behörden und damit auch ihrer Politik sein wird. Deshalb setzt sie fortan vor allem auf einen ehemaligen Kritiker, der ihr engster Verbündeter sein muss: Horst Seehofer. Sie tut das - noch - nicht bedingungslos, aber so weitgehend wie irgend möglich. Dramatische Zeiten zwingen offenbar auch die Kanzlerin zu unbequemen Schritten.

Die G 7, Donald Trump und was das bedeutet

Merkels Auftritt beginnt mit dem dicksten Problem, jedenfalls außenpolitisch: dem Bruch Donald Trumps mit der Welt, wie man sie seit Jahrzehnten kannte. Er hat zum Abschluss des G-7-Gipfels den bislang größten einer schon langen Reihe von Affronts geliefert - und eine mühsam erreichte Abschlusserklärung Stunden später per Tweet aufgekündigt.

Merkel spricht von einem "ernüchternden und deprimierenden Erlebnis". Und sie liest es als letzten und stärksten Beleg dafür, dass der US-Präsident wie keiner sonst sehr klar mache, dass für ihn "America first" gelte - und sonst eigentlich gar nichts. Für die Kanzlerin ist es die endgültige Bestätigung für die Einsicht, "dass wir unsere Prinzipien, unsere Werte in Europa selber verfechten müssen".

Trumps Tweet vorangegangen war eine Pressekonferenz von Gipfel-Gastgeber Justin Trudeau. Der kanadische Premier erklärte den anwesenden Journalisten, dass Kanada auf Trumps Strafzölle mit Ähnlichem antworten werde. Merkel macht deutlich, dass sie Trudeaus Haltung nicht etwa falsch, sondern absolut richtig findet. Nicht anders werde es auch die EU halten und am 1. Juli ihre Gegenmaßnahmen bei der Welthandelsorganisation WTO anmelden.

"Manchmal muss man sich entscheiden - so ist das in der Politik", sagt Merkel. Und lächelt. Ausgerechnet sie, der so viele Jahre schon nachgesagt wird, dass sie gerne und häufig zögert, zeigt an diesem Abend ein Lächeln, das wie eine Kampfansage aussieht.

Ist das transatlantische Bündnis zu Ende?

Darauf gibt Merkel eine eindeutige Antwort: nein. Sie will und wird weiter das Gespräch suchen, das sei nun mal ihre Art, an die Dinge heranzugehen. "Es gibt zu viele gute Gründe, um dafür weiter zu kämpfen." Merkel erzählt noch einmal, wie mühsam und leidenschaftlich viele beim Gipfel um einen Kompromiss gerungen hätten. Trotzdem verändert sich ihre Richtung.

Mehr und deutlicher als zuvor sagt sie, dass Europa sich jetzt entscheiden müsse. "Wir müssen uns die Frage stellen: Wo müssen wir alleine agieren können?" Merkels Konsequenz und Kernaussage: Europa braucht eine Loyalität zu sich selbst. "Die erste Loyalität gilt immer dem eigenen Land. Aber die zweite - wenn es um außenpolitische Entscheidungen geht - sollte bei der Europäischen Union liegen."

Erlebt sie den Konflikt mit Trump als Niederlage?

Nein. Aber als falsch und großes Ärgernis. Sie wehrt sich vehement gegen das Wort Machtlosigkeit und verweist darauf, dass Europa sich wie Kanada und andere zur Wehr setzen werde. Ob dabei Gutes rauskommt, weiß sie nicht. Nichtstun und dadurch erst recht schwach zu erscheinen, hält sie aber für keine Lösung. Dann würde man sofort als erpressbar gelten, das sei keine Antwort. "Wir lassen uns nicht ein ums andere Mal über den Tisch ziehen, sondern wir handeln dann auch."

Außerdem vertritt sie die These, dass der Beschluss von Kanada trotz Trumps Rückzieher beschlossen sei und damit "rechtskräftig". Ob das so bleibt, nur weil die sechs anderen sich daran halten? Eine wahrscheinlich, nun ja, offene Frage.

Wie es jetzt mit Trump weitergehen soll

Reden übrigens will sie mit Trump weiter. So wie sie es "mit vielen anderen Menschen auf der Welt" auch immer wieder getan habe. "Mein Credo ist, und davon werde ich auch nicht abgehen: dass man versucht, über Schwieriges Einigung zu erreichen. Und wenn das nicht möglich ist, muss man eben seines Weges gehen."

Was hält sie von Trumps Vorschlag, alles überall zollfrei zu machen?

Die Kanzlerin findet die Idee gar nicht unterinteressant, hält den Weg zur Zollfreiheit aber für einen sehr steinigen. Dann nämlich werde es nicht nur um Zölle gehen, sondern auch um Direktinvestitionen, um Marktzugänge, um Subventionen, die wettbewerbsverzerrend wirkten. Kurzum: "Das wird keine schnellen Lösungen bringen."

Wie steht sie zu Trumps Idee, Russland solle in die G 8 zurückkehren?

Man habe darüber gesprochen, aber Trumps Motive "haben mich noch nicht überzeugt". Dass Russland in Fragen von Krieg und Frieden eine Rolle spiele, sei unstrittig. "Wir brauchen Russland für Abrüstungsfragen, wir brauchen Russland für die Verhandlungen über die Ukraine und wir brauchen Russland im Zusammenhang mit politischen Lösungen im Blick auf Syrien."

Darüber rede man, ganz zweifellos. Die G 7 aber verstehe sie als Gruppe von Demokratien, die gemeinsame Prinzipien teilten. Deshalb könne sie sich eine Rückkehr Russlands zwar vorstellen. Aber dann brauche man im Umgang mit der Ostukraine und dem Minsk-Abkommen klare Fortschritte.

Hat sie irgendein Verständnis für Trump?

Nein. Aber für manche Stimmung bei den Menschen in den Vereinigten Staaten. "Ich kann verstehen, dass es viele Menschen gibt, die sagen: 'Amerika hat sich sehr international engagiert, nicht immer mit großem Erfolg. Und was wird aus uns hier?'" In dieser Stimmung sei nicht nur der US-Präsident. Im Übrigen "wissen wir doch aus unserem eigenen Land, wie das ist, wenn sich ganze Gruppen von Menschen zurückgelassen fühlen. Das kann man verstehen."

Trotzdem glaube sie an Win-win-Situationen, also Kompromisse und Einigungen, von denen beide Seiten profitierten. Andere wie der US-Präsident glaubten dagegen, dass nur einer gewinnen könne und der andere zwangsläufig verliere. "Das ist vielleicht der Unterschied."

Wie viele Sorgen bereitet ihr die neue italienische Regierung?

Da gibt sich Merkel alle Mühe, keinen Zorn zu zeigen. Obwohl der neue Regierungschef Giuseppe Conte den anderen Europäern mit einem Tweet zu Moskau in den Rücken gefallen war. Statt zu schimpfen, will Merkel besänftigen. Und erinnert daran, dass man beim Treffen in Kanada am Ende gute Ergebnisse beispielsweise zu den Krim-Sanktionen erzielt habe. So gesehen wäre es eigentlich nur "nett gewesen", wenn man vorher gesprochen und erst danach getwittert hätte. "Das meinte ich ein bisschen mit der europäischen Loyalität: Wenn wir als Europa stark auftreten wollen, müssen wir untereinander Kompromisse finden und also erst mal miteinander sprechen."

Darüber hinaus erzählt Merkel, wie sie dem neuen Ministerpräsidenten vor allem mit einem neuen Vorschlag begegnet sei, nicht mit einer Konfrontation. So habe sie ihm das Angebot gemacht, gemeinsam Italiens großes Problem bei der Jugendarbeitslosigkeit anzugehen. Und das sei gar nicht so schlecht angekommen. Dabei erinnert sie daran, wie sehr sie in Griechenland und Portugal beschimpft worden sei. Und heute? Sei bei ihrem Besuch in Portugal eine "Superstimmung" gewesen. "Manchmal muss man durch eine Durststrecke gehen, um dann wieder gemocht zu werden." Ein erstaunlicher Satz, in der Lage.

Wie wünscht sich Merkel die EU?

Sie will, dass sich Europa zusammenrauft. Und sie verweist auf niemand anderen als die USA. Die nämlich seien so groß und mächtig, weil sie wirtschaftlich so stark sein. Deshalb sei es ihr wichtig, dass Europa das Gleiche erreiche, dass es innovativ sei. "Wenn wir das nicht in die Waagschale werfen können, dann werden wir auch kein wichtiger Faktor in der Welt sein."

Für Europa werde darüber hinaus entscheidend sein, ob es gelinge, eine gemeinsame Außenpolitik zu vertreten. Ob man es also schaffe, dass nicht einer Absprachen mit Amerika treffe, ein anderer mit China. Denn sonst werde "Europa zerrieben werden in einer Welt, in der ganz starke Pole da sind". China, Russland, Amerika - als Antwort darauf "muss Europa auch ein starker, sich in Loyalität verbundener Pol werden". Ihr Wunsch: eine gemeinsame strategische Kultur, in der sich der europäische Ansatz mit militärischen, zivilen und entwicklungspolitischen Zielen verbinden könnte.

Was will sie dafür tun?

Sie will anders als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kein Euro-Gruppen-Budget. "Kühn" bemesse sich nicht allein daran, wie viel Geld einer ausgeben wolle. Aber sie will beispielsweise die enge Kooperation mit Frankreich bei der Forschung suchen. Und sie will unbedingt erreichen, dass die EU ein einheitliches Asylsystem mit einer gemeinsamen Behörde und gemeinsamen Standards bekommt. Diese Frage hält sie für eine Überlebensfrage der EU. "Schafft die EU das nicht, dann ist sie in Gefahr."

In diesem Zusammenhang spricht sie auch über den Zwang, das deutsche Verteidigungsbudget zu erhöhen. Das sei alles andere als populär, aber es sei in der jetzigen Situation unverzichtbar geworden. "Als Bundeskanzlerin muss ich darauf Antworten geben." Selten hat sie das so deutlich gesagt - und auch noch abgewogen gegen Forderungen, doch lieber die Renten zu erhöhen.

Wie reagiert sie auf die Probleme beim Bamf?

Vor allem mit zwei Sätzen. Erstens mit der Botschaft, dass am Ende für alles sie die Verantwortung trage. Und da wolle sie sich auch nicht wegducken. Zugleich erinnert sie daran, dass sie es gewesen sei, die wegen der großen Probleme und der Überforderung des Marktes Frank-Jürgen Weise geholt habe. Damals habe sie in einer Art politisch eingegriffen, wie sie es selten in ihrem ganzen Leben als Kanzlerin getan habe.

Die Flüchtlingskrise, keine Frage, sei eine "Riesenaufgabe" gewesen - und eine Aufgabe zudem, auf die das Amt bis dahin nicht vorbereitet gewesen sei. "Ich bin für die Dinge politisch verantwortlich", sagt sie mehr als einmal. Allerdings erinnert sie auch daran, dass die besonders umstrittene Entscheidung, in der Hochphase der Krise bei Syrern nur schriftliche Fragebögen zu verteilen, von allen Landesinnenministern mitgetragen worden sei. Es ist ein kleiner Hinweis, aber er könnte und soll wohl manchem Kritiker ein bisschen wehtun.

So wie es für ihren langjährigen Weggefährten Thomas de Maizière nicht schön sein dürfte zu hören, dass das "zuständige Ministerium" die Probleme nicht mehr allein habe bewältigen können.

Und wer soll nun Abhilfe schaffen?

Das lässt sich nach diesem Abend ziemlich präzise personalisieren: Horst Seehofer soll die Probleme lösen und damit auch die Kanzlerin retten. Ausgerechnet der CSU-Chef, der Merkel jahrelang schärfstens kritisiert hat, ist nun ihr großer Hoffnungsträger - als neuer Bundesinnenminister. Seehofers Plan mit den Ankerzentren wird von ihr voll mitgetragen. Seine Ankündigung, das Asylsystem umfassend zu reformieren - auch dafür gibt sie ihm die volle Rückendeckung.

Distanz gibt es bei ihr nur zu Alexander Dobrindts Attacken auf eine Anti-Abschiebe-Industrie - und auf dessen Vorschlag, Flüchtlinge, die aus anderen EU-Ländern kommen, direkt abzuweisen. Merkel will, dass EU-Recht weiter Vorrang vor nationalem Recht behält.

Doch was als deutliche Distanz daherkommt, kann auch ganz anders gelesen werden: Als die sogenannten Dublin-Regeln noch galten, beinhaltete das auch, genau das zu tun: Flüchtlinge aus Griechenland oder Italien dorthin zurückzuschicken. Allerdings erst, wenn ihre Daten in Deutschland überprüft worden waren. Dobrindt würde selbst darauf gerne verzichten.

Im Übrigen äußert sich die Kanzlerin noch einmal grundsätzlich zum Schutz von Grenzen. Diese könne man schützen, aber nicht wirklich schließen. "Wir haben Tausende von Kilometern Grenzen, die könnte man nur mit einer Mauer wirklich schließen, wenn überhaupt." Auch so ein Satz an diesem Abend, der lange nachklingt.

Und was sagt sie zum Fall der ermordeten Susanna?

"Der Fall ist schrecklich", erklärt die Kanzlerin. "Es ist ein abscheulicher Mord. Für die Eltern das Schlimmste, was passieren kann." Dieser Fall zeige, wie wichtig es sei, im Falle abgelehnter Asylbewerber die Verfahren schnell durchführen und diese dann auch wieder schnell nach Hause schicken zu können. Deshalb unterstütze sie Seehofer und seine Ankerzentren.

Angesprochen auf die massive Kritik an ihr und an den Behörden, antwortet sie nach fast einer Stunde wie zum Abschied: "Hier hilft kein Papier, hier hilft nur das Erlebnis." Das Erlebnis, dass die Behörden und alle zusammen es besser machen.

Apropos Abschied. Irgendwann an diesem Abend wird die Kanzlerin gefragt, ob sie es bereue, noch mal angetreten zu sei, ob sie also manchmal übers Aufhören nachdenke. Was antwortet sie? "Dafür habe ich keine Zeit."

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