Medien in Großbritannien:Der Gegen-Druck

Medien in Großbritannien: Der Brexit als Geburtstunde eines neuen Magazins: "The New European".

Der Brexit als Geburtstunde eines neuen Magazins: "The New European".

(Foto: Justin Tallis/AFP)

Einen Tag nach dem Brexit-Votum beschloss ein britischer Verlagsmanager, dass man genau jetzt eine neue Zeitung gründen müsse. Als Blatt für die Wahlverlierer ist "The New European" profitabel.

Von Hannes Munzinger

Am 24. Juni herrscht Katerstimmung in Shoreditch. Es ist der Tag nach dem Referendum über den Verbleib in der EU, der Verlagsmanager Matt Kelly schlendert durch den Stadtteil im Londoner East End, den vor allem finanzkräftige Hipster und Touristen bevölkern. Die Menschen auf den Straßen sind niedergeschlagen, diskutieren das knappe Wahlergebnis, die Konsequenzen, die Unsicherheit. Er denkt: "Welche Zeitung würdest du kaufen, um zu demonstrieren, dass du Teil der 48 Prozent bist?" Kelly mailt seinem Chef eine verrückte Idee: Wenn es einen guten Zeitpunkt gibt, eine neue Zeitung auf den Markt zu bringen, dann jetzt. So beginnt die Geschichte einer der spannendsten medialen Neugründungen des Jahres 2016.

Die Zielgruppe ist klar definiert: Demoskopen wissen, wo und wer die 48 Prozent der Wähler sind, die gegen den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union gestimmt haben. Sie sind leidenschaftlich, verärgert, geschockt, und in Kellys Augen gibt es auf dem britischen Zeitungsmarkt kein Angebot für sie.

In der folgenden Woche trifft sich die Geschäftsleitung des Archant-Verlags, der Kelly angehört. Die Firma aus dem ostenglischen Norwich publiziert mehrere kleine Tageszeitungen, rund 50 lokale und sublokale Wochenzeitungen. Dazu ein Allerlei an Magazinen, deren Inhalte die Bedürfnisse des Sportschützen ebenso bedienen, wie sie Nachrichten für Hausbootbesitzer liefern. Die Runde diskutiert steigende Preise für Papier und Tinte, bis Kelly seine Idee vorstellt: 24 Stunden später ist ein einfacher Business-Plan geschrieben, weitere acht Tage später liegt die neue Zeitung The New European am Kiosk. Soweit die Legende. Kelly erzählt sie gern und routiniert.

Die Mischung der Autoren kann man angenehm pluralistisch finden - oder ein wenig beliebig

Tatsächlich startete The New European als Überraschungserfolg. Von 100 000 gedruckten Exemplaren der ersten Auflage wurden zwar nur 40 000 verkauft, bei einem Stückpreis von zwei Pfund war das dennoch schnell verdientes Geld für Archant. Vier Ausgaben plante der Verlag, danach sollte der Absatz jeder Ausgabe "ein Referendum über die nächste" sein. Schon in der zweiten Woche ging es abwärts, es kam die Urlaubszeit, die verkaufte Auflage sank gefährlich nahe an die 14 000 Exemplare, die das Blatt braucht, um profitabel zu sein. Am Ende des Sommers gelang aber ein kleiner Coup: Die Zeitung veröffentlichte einen Exklusivbeitrag von Tony Blair, die etablierten Medien mussten den New European zitieren und die Verkaufszahlen stiegen wieder an. Inzwischen sind 23 Ausgaben erschienen, die verkaufte Auflage liegt zwischen 20 000 und 25 000, Tendenz steigend. Geschichten von erfolgreiche Zeitungsgründungen wurden zuletzt selten erzählt. Warum wurde gerade diese zum (zumindest kurzfristigen) Erfolg?

Matt Kelly hat ein gutes Adressbuch. 18 Jahre arbeitete er für den Daily Mirror, zuletzt verantwortlich für das Digitalangebot der Mirror-Gruppe. Er kennt die Branche und die Branche kennt ihn. Als Repräsentant, Manager und Chefredakteur in einem organisiert er nun die vielen Gastbeiträge, die den New European Woche für Woche füllen. Das Blatt kommt ohne Agenturmaterial aus, es gibt zweitverwertete Artikel, sonst setzt man auf exklusive Texte.

Obwohl der Name der Zeitung ein politisch eindeutiges Statement ist, ist die Riege der bisherigen Autoren ein parteipolitisches Durcheinander: Der Gründer der europafeindlichen und heute rechtspopulistischen UKIP-Partei Alan Sked durfte den politischen Zauberlehrling geben und gegen alte Weggefährten wettern, der Chef der Liberaldemokraten die mangelnde Weitsicht der Premierministerin beklagen und Ex-Regierungssprecher Alastair Campbell bekennen, warum er das Boulevardblatt Daily Mail hasst. Neben Politikern kommen namhafte Schriftsteller, Autoren, verrentete, freie und befreundete Journalisten zu Wort. Auch Bild-Chefin Tanit Koch steuerte einen Artikel bei. Man kann das Programm erfrischend pluralistisch finden - oder unangenehm beliebig.

Dass seine Zeitung als Plattform für Kampagnen genutzt wird, stört den Macher Kelly nicht: "Wenn jemand wie Tony Blair eine Botschaft platzieren möchte, sind wir das perfekte Vehikel dafür. Keine andere Zeitung sieht uns als Konkurrenz." Eine Stammleserschaft, auf die man Rücksicht nehmen müsste, hat das junge Blatt noch nicht. Und klassische ideologische Trennlinien hält der Chefredakteur für überholt: "Die Idee, dass es immer noch um rechts gegen links geht, Labour gegen Tories, ist überholt. Das Brexit-Votum hat etwas gezeigt, dass schon seit mehr als zehn Jahren gilt: Es geht jetzt um Offenheit oder Rückzug. Es geht um deine Stimmung gegenüber der Frage, ob wir eine Gemeinschaft in einer größeren Gemeinschaft sein wollen", so Kelly.

Er will einen Fehler vermeiden, den er den etablierten links-liberalen Medien vorwirft: Sie hätten die gesellschaftliche Stimmung nicht erkannt, sich zu sehr damit aufgehalten, die Unwahrheiten der Leave-Kampagne zu widerlegen, und vergessen, die Erfolgsgeschichten der EU zu erzählen, während die konservativen Blätter wie eine Maschine funktionierten. Zeitungen könnten analog zu Stimmungen und Trends entstehen und wieder vergehen, nicht jede Markteinführung einer Zeitung muss demnach auf die Ewigkeit angelegt sein. Langfristiges Scheitern mache einen kurzfristigen Erfolg nicht ungeschehen. Und man kann mit wenig Einsatz viel Aufmerksamkeit für eine kleine Zeitung erzeugen. "Unser Modell war genau das Gegenteil zu traditionellen Markteinführungen, wir haben es in einem Rutsch designed, das erste Design war das endgültige. Zwei Gestalter, zwei Nachrichtenredakteure und der Chef produzieren wöchentlich 48 Seiten", so Kelly. Der Verlag sei zugleich groß und klein genug gewesen, so ein Projekt umzusetzen. Zu welchem Anlass man wieder eine Zeitung gründen könnte lässt er offen: "Es ist schwer auszumalen, was der nächste Brexit sein könnte. Keiner hat Donald Trump vorhergesehen. Aber warum macht keiner die Daily Trump Watch? Das wäre eine interessante Zeitung."

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