Manipulationsdebatte:Vertraue niemandem

Die Sieger des World Press Photo Awards stehen fest. Doch der Glaube in digitale Bilder ist erschüttert.

Von Hannes Vollmuth

Kapitel 36 seines berühmten Buchs über das Wesen der Fotografie beginnt Roland Barthes mit einer Anekdote über seine Krawatte. "Einmal erhielt ich von einem Photographen ein Photo von mir, dessen Entstehungsort mir trotz aller Bemühungen unerfindlich blieb." Barthes mustert seine Krawatte auf dem Foto, um der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen, vergebens. Auch die Situation sagt ihm nichts. "Und trotzdem, weil es eine Photographie war, konnte ich nicht bestreiten, daß ich da gewesen war."

Seit Die helle Kammer sind 36 Jahre vergangen. Und der alte Glaube an das "Es ist so gewesen" jeder Fotografie ist ziemlich ramponiert. Nirgends wird das so deutlich wie beim renommierten World Press Photo Award, der am Donnerstag verliehen wurde. Wenn in letzter Zeit über die Auszeichnung gesprochen wurde, dann dominierten die Wörter Fälschung und Fake.

22 Prozent. So viele Bilder wurden im Finale 2015 disqualifiziert - wegen zu starker Bearbeitung. Wie viele Disqualifizierungen es diesmal gab, wird Ende Februar bekannt gegeben. 2015 hat das wenig geholfen. Anschließend wurde nämlich bekannt, dass die prämierte Fotostrecke des Italieners Giovanni Troilo überwiegend gestellt gewesen war. Selbst seine Cousine hatte er für ein Bild engagiert, ein anderes war nicht dort entstanden, wo angegeben.

Der Skandal war für den Fotojournalismus keine Neuigkeit, die Konsequenzen schon. Freelens, der größte deutsche Verband für Fotojournalisten, erneuerte die Leitlinien für Pressefotos. Auch die Nachrichtenagentur Reuters schloss neue Vereinbarungen mit ihren Fotografen, die seitdem nur noch Bilder im JPEG-Format liefern dürfen, so wie sie direkt aus der Kamera kommen. Vor ein paar Wochen sagte dann auch noch Don McCullin, 80, eine Koryphäe des Fotojournalismus, dem Guardian: Die digitale Fotografie sei eine total verlogene Angelegenheit, der man nicht mehr trauen könnte. Seitdem stellen sich viele Fotografen die Frage: Was bedeutet das alles eigentlich für die Fotografie? Und ist Misstrauen eigentlich so schlimm?

Abbey Earl for Flickerfest

Unglaubliches Wetter: Das Foto einer Wolkenfront am Bondi Beach gewann einen der World Press Photo Awards.

(Foto: Rohan Kelly/AP/Daily Telegraph; World Press Photo of the Year 2015)

Anruf bei Maurice Weiss, der gerade irgendwo im norwegisch-russischen Grenzgebiet unterwegs ist. Weiss von der Agentur Ostkreuz ist einer der wichtigsten Reportagefotografen Deutschlands. Er sagt: "Immer weniger Fotografen können von ihren Bildern leben." Der Wettbewerb sei groß, Preise seien wichtig. Inzwischen werden tatsächlich Fotos beim World Press Photo eingereicht, die nicht nachrichtlich entstanden, sondern inszeniert sind oder schlimmer: manipuliert. Wer hat die dramatischsten Bilder, ist das Einzige, was zählt. "Ja, sicher ist das Misstrauen in Bilder inzwischen groß", sagt Weiss. Das Problem sei aber der leichtfertige Umgang mit Bildern, nicht die Bearbeitung. "Die Bildbearbeitung gehört zur Geschichte der Fotografie von Anfang an."

In den Neunzigerjahren sagte Pierre Gassmann, der schon für den Urvater aller Fotoreporter, Henri Cartier-Bresson, in der Dunkelkammer gestanden hatte: "Der Fotograf ist der Komponist, er schreibt die Noten, und ich bin der Dirigent, der seine Partitur interpretiert." Auf das digitale Zeitalter übertragen, wäre die Partitur eines Bildes inzwischen das Raw-Format, eine Art digitales Negativ: roher, unbearbeiteter Code, den Fotografen durch die Entwicklungsbäder ihrer digitalen Dunkelkammer ziehen. Man kann aus einem Raw-Bild ein Motiv mit magisch kristallenem Sonnenlicht zaubern, wie es Paul Hansen 2013 im World-Press-Photo-Wettbewerb getan hat. Es gab Fälschungsvorwürfe, aber nach gängiger Meinung ist das noch keine Manipulation. Oder man kann aus fünf Bildern im Raw-Format ein neues Motiv basteln, das so nie existiert hat - im Pressebereich eindeutig Manipulation.

Parallel zum Bildhunger sind auch die Möglichkeiten der Bearbeitung gewachsen, und die der Manipulation. Jeder Smartphone-Knipser weiß das. Bilder zu bearbeiten, ist kein exklusives Handwerk mehr, eher ein Volkssport. Teilnehmer bei World Press Photo müssen daher inzwischen das Raw-Format einschicken.

Glaubwürdigkeit ist für Nachrichtenagenturen die Arbeitsgrundlage. "Unser höchstes Gut ist, dass unsere Bilder tatsächlich echt sind", sagt dpa-Fotochef Peer Grimm, der für 80 Fotografen verantwortlich ist. Der Bearbeitungsspielraum ist, wenn überhaupt, minimal. Fotografen hingegen, die für Magazine arbeiten, justieren stärker an der Bildwirkung, indem sie etwa Farbfilter benutzen. Wer noch weiter geht und ein störendes Element entfernt, überschreitet die Grenze zur Manipulation.

Sieger 2016

Flüchtlinge, der Krieg in Syrien, der Terror in Paris, das Erdbeben in Nepal und die Zusammenstöße von schwarzen Demonstranten und der Polizei in den USA - das waren die beherrschenden Themen auf den eingereichten Fotos für den World Press Photo Award 2016. Insgesamt hatten sich in diesem Jahr 5775 Fotografen aus 128 Ländern mit 82 951 Fotos beworben. Die Auszeichnung als Pressebild des Jahres bekam der australische Fotograf Warren Richardson. Sein grobkörniges Schwarz-Weiß-Bild zeigt einen Flüchtling, der ein Baby unter einer Stacheldrahtabsperrung hindurchreicht.

Peter Bialobrzeski hat selbst schon zwei Mal den World Press Photo Award gewonnen, 2003 und 2010. Der Professor für Fotografie an der Hochschule für Künste Bremen sagt: "Wir sind historisch am Ende des Glaubens, eine Fotografie zeige eins zu eins die Realität." Die Debatten, die den Preis begleiten, das Pochen auf Echtheit, sind für ihn letzte Rückzugsgefechte.

Bilder haben zunächst ja die Eigenschaft, dass man ihnen glaubt, egal, wer das Bild gemacht hat und egal, wo sie auftauchen. "Das macht auch ihren Zauber aus", sagt Bialobrzeski. Die verführerische Botschaft, "Es ist so gewesen", ist jedem Foto schon eingeschrieben, weil die Fotografie unserer Weltwahrnehmung entspricht. Fotografen, Theoretiker und Kuratoren von Fotomuseen sind deshalb der Meinung: Wir müssen Bilder mehr hinterfragen, wir dürfen nicht allem trauen. Misstrauen ist die Voraussetzung für einen verantwortungsvollen Umgang mit Bildern.

Bialobrzeski sagt: "Auch die Pressefotografie war immer künstlich, und die Aufregung über Manipulation ist es auch." Er hat zwar Verständnis für die dpa-Kollegen, die kaum Bildbearbeitung zulassen, die Authentizität eines Bildes hängt für ihn aber nicht davon ab, ob es bearbeitet ist oder nicht. "Authentisch kann ein Bild auch sein, wenn man die Möglichkeiten der digitalen Technik nutzt", sagt er. Auch er hat schon Bildelemente digital verlängert, damit die Wucht des Eindrucks größer war. Genauso gibt es Fotografen, die ein Bild nicht freigeben, wenn es Dinge in einen falschen Zusammenhang rückt - obwohl es den Foto-Moment so gegeben hat.

"Fotografie ist der Sprache sehr ähnlich", sagt Bialobrzeski. Genauso wie ein schreibender Journalist eine Auswahl der Fakten trifft, wählen auch Fotografen einen Ausschnitt der Realität, ändern ihre Position, warten auf gutes Licht, spielen mit Schärfe und Unschärfe und bitten Menschen, beiseite zu gehen. Für authentische Bilder bürgt demnach weder die Kamera noch ein Bearbeitungsverbot. Am Ende ist es wie bei jedem journalistischen Text. Nicht die Tastatur garantiert, dass er authentisch ist. Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit des Journalisten und des Mediums, in dem der Text erscheint.

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