Mafia-Serie:Glorifiziert "Gomorrha" die Mafia?

Gomorrha

Ciro Di Marzio (Marco D'Amore), auch genannt "L' immortale", der Unsterbliche (links), ist auch außerhalb der Serie längst ein Promi geworden.

(Foto: Gianni Fiorito/Betafilm)

In den Straßen Neapels schießen sie wie die fiktiven Gangster aus der Kult-Serie, Zeitungen titeln "Mord im Stile von 'Gomorrha'". Über das schwierige Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit.

Von Oliver Meiler, Rom

Zwei Namen hallen laut durch Italien, samt polemischem Echo. Dabei sind es nur Künstlernamen. Genny Savastano und Ciro Di Marzio - so heißen die beiden Hauptfiguren aus der unerhört erfolgreichen Fernsehserie Gomorrha, die auf dem gleichnamigen Bestseller von Roberto Saviano basiert. Sie handelt von der Camorra, Neapels Mafia.

Die jungen Bosse aus dem TV sind mittlerweile so bekannt, dass die Schauspieler, die ihre Rollen interpretieren, in Talkshows auftreten und Zeitungsinterviews geben. Salvatore Esposito und Marco D'Amore, 31 und 36 Jahre alt, sollen dann nicht nur über ihre Künste reden. Sondern auch über Politik, die Gesellschaft, gerne auch über Fußball. Beide geben sich Mühe, Italienisch ohne neapolitanischen Einschlag zu reden. Würden sie bei ihren Auftritten abseits des Sets nicht auch mal herzhaft lachen, fiele es schwer, sie von ihren Rollen zu trennen. In der Serie lachen sie nie, es läuft nun die dritte Staffel.

Das Phänomen mag es auch bei anderen Schauspielern geben, die mal eine besonders einprägsame Rolle gespielt haben. Bei Gomorrha aber wirkt alles an der Fiktion so verstörend real und roh, dass die Grenzen zwischen dem, was ist, und dem, was nur gespielt wird, scheinbar ständig verwischen. Nach echten Morden der Camorra mit richtigem Blut in den Straßen Neapels, schreibt das Lokalblatt Il Mattino oftmals: "Mord im Stil von Gomorrha". Und das muss man offenbar wörtlich verstehen.

Mehrere prominente Richter und Mafiajäger haben die Serie jetzt hart kritisiert. Sie finden, das organisierte Verbrechen werde auf verstörende Art vermenschlicht, gar ein wenig glorifiziert. Polizisten kommen bei Gomorrha kaum vor. Richter auch nicht. Es gibt nur Böse, und diese Bösen erscheinen mit den Jahren und den Schicksalsschlägen immer weniger böse.

Einer der lautesten Kritiker der Serie ist Nicola Gratteri, der Staatsanwalt aus Catanzaro und Kämpfer gegen die Ndrangheta, Kalabriens Mafia. Die Hauptfiguren aus Gomorrha, sagt Gratteri, kämen "viel zu sympathisch" rüber und ihre Verbrechen erschienen eigentlich ganz okay. Das sei ein echtes Problem, weil es den Kampf gegen die Clans erschwere. Federico Cafiero De Raho, der Chef der nationalen Anti-Mafia-Behörde und selber Neapolitaner, hält dem Programm vor, es "humanisiere" die Mafia: "Man könnte meinen, die Camorra sei eine Vereinigung wie andere." Man hört nun auch wieder, Gomorrha könnte zur Nachahmung verleiten, richtige Camorristi könnten sich davon inspirieren lassen.

Angeblich wird heute auf den Straßen sogar anders geschossen als früher: wie im Fernsehen

In diesem Zusammenhang wird ein Beispiel erzählt, von dem niemand genau weiß, ob es wahr ist. Neuerdings soll in den Straßen Neapels auch schon mal so geschossen werden, wie in Gomorrha geschossen wird: mit ausgestrecktem Arm und leicht abgedrehter Hand. Früher schossen offenbar alle klassisch, wie die Revolverhelden aus den Western, weil das Zielen mit gerader Hand am besten gelingt. In der Serie drehen sie die Hand beim Schießen aber nur deshalb ab, weil man sonst bei Frontaufnahmen das Gesicht des Schützen nicht sieht. Es wirkt so viel spektakulärer. Es soll nun vorkommen, dass in Neapel bei Schießereien Unbeteiligte auch deshalb umkommen, weil die Killer mit der neuen Haltung nicht mehr so gut treffen.

Gomorrha soll helfen, die Camorra zu verstehen

Die Produktionsfirma der Serie, Buchautor Roberto Saviano, die beiden Starschauspieler - alle wehren sich vehement dagegen, dass ihr Schaffen zur Imitation verleite. Man lasse sich keine Selbstzensur aufschwatzen, Fiktion sei frei. Saviano wiederholt seit der ersten Staffel, seit 2014 also, dass Gomorrha helfen solle, die Camorra zu verstehen, was wiederum den Weg zu einer Lösung weisen könne: "Die Erzählung spiegelt nur die Grammatik der Macht, sie beleuchtet deren Dynamik." Es sei jedoch immer schon so gewesen, sagte Saviano kürzlich auf "Gomorra Channel", einem Kanal auf Youtube, dass das Verbrechen das Kino inspiriere und das Kino das Verbrechen. "Es ist eine ständige Osmose."

Solche Diskussionen über das Risiko der Nachahmung gibt es immer wieder, vor allem bei Filmen und Videospielen. Doch Gomorrha ist nun mal ein spezieller Fall. Erfunden ist nur die Geschichte, der Plot der Serie. Der Stoff aber beruht auf Savianos Recherchen über die Mafia Neapels und über deren konfusen, brutalen Generationswechsel, dem der Bestsellerautor bereits zwei weitere Bücher gewidmet hat: "La paranza dei bambini" und "Bacio feroce". Die Szenen werden in Neapel gedreht, in den wuseligen Altstadtvierteln und im grauen Secondigliano an der nördlichen Peripherie der Stadt. Alle Italiener kennen die Schauplätze auch aus Abendnachrichten. Allzu oft handeln sie von Abrechnungsmorden, wie man sie in Gomorrha sieht.

Vielleicht ist die Serie ja gerade deshalb so erfolgreich, weil sie Dokumentation und Fiktion mischt und auch ein bisschen mit der Verwirrung spielt. Die Macher, freilich, würden sich gegen diese Deutung verwahren. Doch das Böse fasziniert, und wahrscheinlich fasziniert es noch etwas mehr, wenn es besonders glaubwürdig wirkt. Ähnlich funktionieren auch andere TV-Serien in Italien, die von der Mafia handeln. Es gibt eine ganze Menge davon, es ist derzeit das beliebteste Genre. Viele dieser Formate wagen sich nahe heran an die Wirklichkeit, man erkennt die einzelnen Clans, auch wenn sie nicht unter ihrem richtigen Namen auftreten. Die Serie Suburra etwa, die die römische Mafia verhandelt, gleicht Gomorrha im Ton und in den Farben. Auch Suburra ist ein Großerfolg.

Gomorrha aber ist zum Gesellschaftsphänomen geworden. Jede Episode wird jeweils länglich in der Presse besprochen, es gibt Diskussionsforen im Netz. Im Radio kommt es vor, dass geistreiche Moderatoren vorgeben, sie wüssten, wie es weitergeht: Sie täuschen also sogenannte Spoiler an, um die Spannung der Zuschauer zu brechen. Das findet niemand richtig lustig.

Unlängst schickte das Magazin D der Zeitung La Repubblica einen Reporter und einen Fotografen nach Neapel, damit sie sich da einmal unter den Fans der Serie vor Ort umhören. In ihrer Reportage treten Personen auf, die sich kleiden wie die Figuren aus der Serie, solche, die sich dieselben Tattoos stechen ließen und ganze Passagen frei zitieren können. Einmal Statist sein in der Serie, das ist ein Traum vieler. Vom Team, das für die Kostüme und das Make-up der Serie zuständig ist, heißt es, es habe die modischen Codes in den Gassen Neapels ganz genau studiert und übernommen. D fragt: "Wo hört die Fiktion auf, und wo beginnt die Realität?" Nach Neapel kommen Touristen von weither, nachdem sie die Serie in ihren Ländern gesehen haben. Gomorrha dient als Synonym für die Stadt, was natürlich eine arge Verzerrung ist.

Nun also läuft in Italien die dritte Staffel. In allen großen Städten wurde sie mit gigantischen Plakaten beworben. Genny ist jetzt selber Boss. Sein Vater wurde umgebracht, mit seinem Einverständnis. Er herrscht über ein großes Gebiet von Secondigliano bis Rom. Ciro, der einmal Gennys Vorbild war, leidet nach dem Mord an seiner Tochter an einer mittleren Depression, aber Ciro ist immer noch "L' immortale", der Unsterbliche. Das ist sein Spitzname, sein Heldenstatus. Kein Rivale kommt ihm bei, die Polizei kann ihn nicht fangen.

Und auch das gibt es in der Realität dramatisch oft. Einmal sagt Ciro, er sei gefangen im Käfig des Untodes. Eine Pointe im Erzählstil von Roberto Saviano.

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