Lügenpresse-Debatte:Journalismus als Schlachtfest

Wofür ist die Pressefreiheit da? Gewiss nicht dafür, Machtgelüste von Politikberichterstattern zu befriedigen. Eine Streitschrift versucht sich an einer Versachlichung der Debatte um die "Lügenpresse".

Von Heribert Prantl

Es gibt eine lange Tradition von Beamtenverachtung in Deutschland. Sie beginnt schon bei Bismarck; von ihm stammt der Satz: "Um eine Staatsverwaltung in tüchtigem Gang zu halten, müssten alle drei Jahre einige Minister, einige Generale und ein Dutzend Räte füsiliert werden; man müsste alle Beamten mit dem fünfzigsten Lebensjahr wegjagen."

Die überkommene Beamtenverachtung wird neuerdings in Deutschland durch eine Journalistenverachtung ersetzt, die zuletzt bei den Pegida-Demonstrationen in dem Schlachtruf "Lügenpresse, halt die Fresse" kulminierte. Der frühere FAZ- und heutige Verschwörungsjournalist Udo Ulfkotte hat dazu ein ziemlich wirres und widersprüchliches, aber aufsehenerregendes Buch mit dem Titel Gekaufte Journalisten veröffentlicht. Der verheißungsvolle Titel hat dazu geführt, dass das Buch viel verkauft worden ist.

Nun versucht der emeritierte Politologe Thomas Meyer (er ist SPD-Mitglied und stellvertretender Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD, des Weiteren Chefredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte), die Journalismus- und Journalistenkritik auf eine seriöse Ebene zu heben. Bei Suhrkamp ist sein Traktat über Die Unbelangbaren erschienen, womit er die politischen "Alpha-Journalisten" meint, denen er vorwirft, dass sie sich als "Ko-Politiker" verstehen, die im politischen Geschäft mitmischen wollen.

Diese angeblich Unbelangbaren will Meyer künftig belangen - wenn auch nicht so recht deutlich wird, wie das geschehen soll. Sie sollen sich jedenfalls irgendwie verantworten müssen, und zwar nicht nur dann, wenn sie Gesetze verletzen, sondern auch dann, wenn sie Kampagnen betreiben mit einer "manisch-selbstgefälligen Lust an der Inszenierung" und wenn sie in ihren Texten die "destruktive Selbstüberschätzung" pflegen.

Sind Journalisten Ko-Politiker, die im politischen Geschäft mitmischen wollen?

Politischer Journalismus, so wie Meyer ihn sich vorstellt, soll Folgendes bieten: "treuhänderische Information über das politische Geschehen sowie die Orientierung durch Kommentare, die sachlich formuliert und als Meinungsäußerungen gekennzeichnet sind". Darunter fallen dann gewiss nicht Stücke wie jenes, das Dirk Kurbjuweit unter dem Titel "Ansichten eines Clowns" kurz vor der Bundestagswahl 2013 im Spiegel über den SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück publiziert hat.

Das ist ein Text, der Meyer besonders erzürnt. Er nennt in seiner Philippika Kurbjuweit zwar nicht namentlich, dessen Text ist aber für Meyer das große Exempel dafür, wie Journalisten Politiker "erbarmungslos in die Pfanne" hauen. Der Artikel sei "öffentliche Schlachtung". Meyer hätte den Autor dafür gern irgendwie belangt - ebenso wie Marietta Slomka vom ZDF für "unsinnige minutenlange Drangsalierung" des SPD-Chefs Sigmar Gabriel per Interview im Heute-Journal, das "die Form eines strengen und tadelnden Verhörs" angenommen habe.

Gewiss lässt sich darüber streiten, ob Journalisten sich "die Rolle des Psychoanalytikers" anmaßen und ob sie, wie Meyer das den "Alphajournalisten" an anderer Stelle vorwirft, auch "gleichzeitig die Rollen von Staatsanwälten, Zeugen und Richtern" übernehmen dürfen. Aber es hätte seiner Journalismuskritik gutgetan, wenn sie sich nicht in der Beschreibung zweier sozialdemokratischer Fälle (dazu kommt dann noch der Fall Christian Wulff) erschöpft hätte. Meyers Kritik liest sich wie eine mitleidsheischende Schimpferei bei der Vorstandsrunde im Willy-Brandt-Haus. Es schadet der Meyer'schen Kritik am selbstgefälligen Habitus von Journalisten, dass er diese Kritik sozialdemokratisiert. Da ist ein SPD-Herz wund und aufgescheuert.

Die richtigen Fragen, gestellt im falschen, weinerlichen Ton

Die Fragen zum Selbstverständnis des politischen Journalismus, die Meyer aufwirft, müssen nicht in weinerlichem Ton vorgetragen werden; sie verdienen bessere Antworten als gekränkte Räsoniererei. Politiker wissen ja durchaus, wie sie sich der Medien bedienen - auch Steinbrück wusste das zu gegebener Zeit, und Wulff wusste das bei seinem politischen Aufstieg auch. Man muss das über der Brutalität, mit der Wulff als Bundespräsident in den Rücktritt getrieben wurde, nicht vergessen.

Der Fall Wulff spielt ziemlich genau fünfzig Jahre nach der Spiegel-Strauß-Affäre, fünfzig Jahre nachdem der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß die Redaktion des Spiegel durchsuchen und die Köpfe des Nachrichtenmagazins verhaften ließ. Dieser Maßlosigkeit der Politik folgte also die Maßlosigkeit der Medien. Verbindendes Element ist die Exzessivität, mit der sich jeweils eine Macht präsentiert und inszeniert. Das Kernanliegen des Journalismus-Kritikers Meyer ist deshalb richtig: Pressefreiheit ist nicht dafür da, Journalisten lustvolle Gefühle zu verschaffen. Sie ist nicht die Freiheit zur Selbstermächtigung und Selbstbefriedigung, die in einem Rücktritt den Höhepunkt findet.

Die Causa Wulff bietet Anlass zur Gewissenserforschung. Dazu eignet sich am besten ein Satz von Paracelsus, dem großen Arzt aus dem 16. Jahrhundert: Dosis sola venenum facit - allein die Menge macht das Gift. Es darf das Gefühl für die Dosierung, es dürfen die Maßstäbe und die grundlegenden Rechtsprinzipien nicht verloren gehen, zu deren Verteidigung die Pressefreiheit da ist. Zu den grundlegenden Rechtsprinzipien gehört, bei strafrechtlichen Vorwürfen, die Unschuldsvermutung. Alle Eingriffe dürfen nur so weit gehen, dass man sie gegenüber einem Verdächtigen, der in Wahrheit unschuldig ist, noch verantworten kann. Diese Verantwortung hat die Justiz, diese Verantwortung haben die Medien. Dieser Verantwortung werden sie nicht immer gerecht. Darüber muss man diskutieren - aber nicht in so beleidigtem Ton, wie Meyer das macht.

Die Agenda 2010 war auch Ergebnis einer nie dagewesenen publizistischen Großkampagne

Rudelverhalten, Mainstreaming: Meyer beklagt, dass an die Stelle der alten politisch-ideologischen Bastionen auch im Journalismus "postmoderne Beweglichkeit" getreten sei, die allerdings nicht dazu führe, dass die Journalisten vielfältige Positionen beziehen - "im Gegenteil: Sie suchen alle den Schutz der Herde." Das lässt sich natürlich am Fall Wulff, auch am Fall Steinbrück exemplifizieren. Aber problematisch sind diese Dinge ja nicht nur dann, wenn sie gerade der politischen Haltung des Medienkritikers widersprechen.

Das von Meyer beklagte Mainstreaming hat sich auch gezeigt, als der SPD-Kanzler Schröder seine Agenda 2010 vorstellte - und sie allenthalben bejubelt wurde. Diese Agenda war auch Ergebnis einer publizistischen Großkampagne, wie es sie in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben hatte. Die Situation in Deutschland wurde von den Schlagzeilen und von den politischen Talkshows über Jahre hin so katastrophalisiert - Deutschland im Niedergang, Deutschland als Schlusslicht Europas -, dass fast alles, was sich Reform nannte, die Vermutung des Notwendigen für sich hatte. Die Verbetriebswirtschaftlichung des Gemeinwesens wurde auch vom Journalismus jahrelang wie ein Dogma verkündet. Das stört Meyer in seiner Medienkritik nicht. Es war dies damals ja Schröder'sche SPD-Politik.

Die Pressefreiheit ist für die Demokratie da - aber nicht, wie Meyer es gern hätte, exklusiv für die Sozialdemokratie. Und so muss man wohl darauf warten, dass ein Vorschlag von Meyer umgesetzt wird: dass Journalistenpreise für Selbstkritik ausgelobt werden. Die fällt dann hoffentlich tiefgründiger aus als die Journalismuskritik von Thomas Meyer. Wenn Journalismus zum Schlachtfest gerät, muss Medienkritik mehr sein als die Wurstsuppe.

Thomas Meyer: Die Unbelangbaren. Wie politische Journalisten mitregieren. Edition Suhrkamp, Berlin 2015. 186 Seiten, 15 Euro.

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